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Kädärs Wettlauf mit dem EG-Agrarmarkt

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Ungarns kommunistischer Einheitspartei-Generalsekretär, Jänos Kädär, der in den ersten 20 Jahren nach dem Volksaufstand vom Jahre 1956 keine einzige Reise nach dem Westen unternommen hat, bekundet seit einigen Monaten eine auffallende Reiselust nach dieser Himmelsrichtung. Sein erster Besuch galt Wien, dann ging es nach Italien und in den Vatikan. Im Juli besuchte Kädär die Bundesrepublik. (Vom Reisefieber waren zur selben Zeit übrigens auch andere Spitzenfunktionäre Ungarns erfaßt: Ministerpräsident Läzär besuchte Frankreich und Norwegen, Außenminister Puja England und die Vereinigten Staaten.) Worauf ist dieser rege diplomatische Tourismus zurückzuführen? In erster Linie gar nicht auf außenpolitische Motive, sondern auf wirtschaftliche Sorgen und Probleme, die sich durch direkte Verhandlungen besser eliminieren lassen.

Beim Besuch des westdeutschen Landwirtschaftsministers Josef Erti in Ungarn sind schon vorher, im März 1977, die Konturen der ungarischen Ziele sichtbar geworden. Budapest möchte die Zusammenarbeit mit Bonn nicht nur energisch fortsetzen, sondern so rasch als nur möglich auch vertiefen. Das reicht yom der Kooperation zwischen lami^irts^haftlighen Genossenschaften bis zur Partnerschaft zwischen industriellen Großunternehmen und wissenschaftlichen Forschungsinstituten. Gute Fortschritte wurden hinsichtlich der Fleischindustrie erzielt, die für Ungarn besonders wichtig ist, wobei allerdings die EG:Restriktionen ein bedeutendes Hindernis bilden. Dazu kommt eine erweiterte Kooperation auf dem Gebiet der Agrarwissenschaft. Die Tierärztlichen Universitäten von Hannover und Budapest stellten enge direkte Kontakte her und tauschen nunmehr Informationen, Studenten und Dozenten untereinander aus.

Ungarn möchte begreiflicherweise die Agrarexporte nach der BRD erhöhen, um dadurch sein Außenhandelsdefizit reduzieren zu können. Bonn ist nämlich Budapests größter traditioneller Handelspartner im Westen.

Die Situation wird dadurch kompliziert, daß es seit 1975 die EG-Kommis- sion ist, die Entscheidungen in landwirtschaftlichen Fragen zu treffen hat und die weitverzweigte EG-Problema- tik beunruhigt Ungarn dabei zutiefst. Budapest versucht einen Wettlauf mit der Zeit Und ist bemüht, ehestens so viele Vereinbarungen mit dem Westen, vor allem mit der BRD, abzuschließen als nur möglich, um mit Hilfe westlicher Technologie den Standard der ungarischen Produkte zu verbessern.

Als Beispiel möge hier Ungarns landwirtschaftliches Parade-Staatsunternehmen Bäbolna stehen, das bis 1945 „Krongut” war, aber auch danach nicht kollektivisiert oder unter Kleinbauern aufgeteilt, sondern als „Staatsgut” weitergeführt wurde. Einst war Bäbolna das Zentrum der ungarischen Pferdezucht, heute ist es, mit Hilfe westdeutscher und amerikanischer Experten, eine der größten Tierzuchtfarmen der Welt

Der Vizepräsident des Staatlichen Planungsamtes, .Ferenc Biro, teilte kurz vor Kädärs Reise nach Bonn mit, daß 1976 zwar die Handelsbilanz gegenüber dem Dollarbereich verbessert werden konnte, die Ausfuhr von Erzeugnissen der ungarischen Lebensmittelindustrie jedoch mit 200 Millionen Dollar unter den Planziffern geblieben sei. Daran seien die diskri- minatorischen Zollbestimmungen des EG-Marktes schuld. Die Budapester Regierung trägt demgegenüber großen Optimismus zur Schau und glaubt, 1977 die Lebensmittelausfuhren in den Dollarbereich um 40 Prozent steigern zu können. Um dies zu erreichen, sollen alle Anstrengungen gemacht werden und dabei spielen auch Kädärs Reisen eine gewichtige Rolle.

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