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Kageliade mit Variėtė

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Gemessen an gleichartigen Veranstaltungen in Frankreich, der Bundesrepublik und anderswo, sind die „Internationalen Begegnungen zeitgenössischer Musik“ in Metz ein kleines Wunder. Ein Festival Neuer Musik nicht nur für Insider, ein durchdachtes Programm, attraktiv für Snobs und Neugierige oder (anders gesagt) Eingeweihte und Laien, gefüllte bis überfüllte Säle, ein junges, temperamentvoll reagierendes Publikum meist in der Überzahl - wo gibt es das noch?

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Gemessen an gleichartigen Veranstaltungen in Frankreich, der Bundesrepublik und anderswo, sind die „Internationalen Begegnungen zeitgenössischer Musik“ in Metz ein kleines Wunder. Ein Festival Neuer Musik nicht nur für Insider, ein durchdachtes Programm, attraktiv für Snobs und Neugierige oder (anders gesagt) Eingeweihte und Laien, gefüllte bis überfüllte Säle, ein junges, temperamentvoll reagierendes Publikum meist in der Überzahl - wo gibt es das noch?

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Das Zauberwort lautete „Animation“. Animiert wurde Wochen vorher von den Komponisten selbst in der Region, in der luxemburgischen und deutschen Nachbarschaft; eine eigens zusammengestellte Animations- Equipe wirkte mit und setzte die Arbeit an Ort und Stelle fort Der Erfolg gibt allen Veranstaltern unrecht, die glauben, dergleichen nicht nötig zu haben, weil das Programm für sich sprechen müsse. Natürlich wurden auch Klagen laut: aus dieser oder jener Schule, daß man zuwenig Materiell bekommen habe; Klage kam auch aus Komponistenmund: zwar habe zum Publikum Kontakt bestanden, aber nicht unter den Töneschöpfem selber, die doch auch sich untereinander aussprechen, voneinander lernen könnten.

Was der sonst immer gut aufgelegte Mauricio Kagel fast unwirsch quittierte: er habe drei Konzerte in noch nicht einmal 24 Stunden zu absolvieren und vorher neunzig Proben gehabt; er sei nun einfach müde und hungrig. Und um fünf Uhr früh sollen die Bahnsteige des Metzer Hauptbahnhofs widergehallt haben von seinem befreiten Gelächter - denn die Bahnhofsgaststätten, rund um die Uhr geöffnet, sind hier der nächtliche Künstlertreffpunkt, was die Eigenart des Ortes, halb Großstadt und halb Provinz, recht gut unterstreicht.

Claude Lefebvre, der künstlerische Leiter, Komponist und Lehrer am Konservatorium, Initiator eines Metzer Forschungs- und Begegnungszentrums für experimentelle Musik, hat für die sechsten Rencontres eine so einfache wie nützliche Idee gehabt. Er stellte vier Komponisten - alphabetisch: Carlos Roquė Alsina, Gilbert Amy, Mauricio Kagel und Iannis Xe- nakis - in jeweils einem größeren Werk-Überblick vor. Dazu kamen ein Abend mit Vinko Globokars „Carrou- sel“ des Musikmarktes, das sich schon in Zagreb gedreht hat, das neueste (und nicht ganz so neue) Film-, Dia-, Musik- und Licht-Environment von Josef Anton Riedl und ein Alban- Berg-Konzert (Fremdkörper allen Überlegungen zum Trotz, und mit dem Großen Orchester von Radio-Tėlė- Luxembourg unter Fernand Quat- trocchi, Metzer Konservatoriumsdirektor und Rencontres-Präsident, ehrenhaft, aber doch auf etatbedingte Festpielgrenzen hinweisend); und dazu fügte sich ähnlich fremd ein künstlerisch bruchloses Konzert des Ėnsembles der Gesellschaft zeitgenössischer Musik von Quäbec, das zu dem Xenakis-Porträt beitrug, jedoch im übrigen einmal mehr belegte, daß die heute gängigen Avantgarde-Idiome zu trockenen Sprachübungen verkommen, wenn - ja, wenn eben nur gut komponiert wird.

Das Metzer Programm war in gewisser Weise entlarvend. Es gab sozusagen Einblick in die kompositorischen Handwerksstuben. Man hörte nach einander Stücke aus verschiedenen Zeiträumen und hörte mit, was dazwischen lag: die Dynamik des musikalischen Bewußtseins. Zum Beispiel Gilbert Amy, vor gut fünfzehn Jahren ein Senkrechtstarter der Pariser Boulez- Schule, Komponist und Dirigent wie das große Vorbild: ein Könner zweifellos, und er schreibt Musik ohne Fett und Schminke. Seine perfekt ausnotierten Stimmen und Partituren treiben die Avantgarde auf die Spitze der Virtuosität. Auf dieser Spitze stand sie damals und steht sie heute, Pirouetten drehend, sich selbst genug. Ein Äußerstes an Bewegtheit, die vor allem den Bläsern den Atem nimmt, befördert eine inwendig tote Musik. Ganz anders Xenakis, Kagel, auch der wie Kagel in Buenos Aires geborene Alsina, der immer auf der Suche zu sein scheint nach schöner, vitaler Musik - und der ihr mit Recht mißtraut.

Iannis Xenakis, der französisierte Grieche, der Architekt, Logiker und Philosoph der Neuen Musik, war für mich die überragende Persönlichkeit der Metzer Begegnungen. Uber Zwölf- tönigkeit und Wahrscheinlichkeitsrechnung gelangte er mit einem in Metz uraufgeführten Chorwerk „a co- lone“ zu seinem (freilich nie vergessenen) Griechentum zurück. Ich halte dieses Stück, ursprünglich komponiert zu einer Inszenierung des „Ödipus aüf Kolonos“ von Sophokles, für ein Meisterwerk; der Begriff mag hier einmal angebracht sein. Man wird das Stück mit ßtrawinskys „Ödipus Rex“, mit Neo-Klassizismus in Verbindung bringen - aber es hat damit wenig zu tun. Es imaginiert einen theatralischen Raum jenseits von Musik und Sprache, aus beidem jedoch gespeist, einen Raum der menschlichen Existenz. Xenakis hat die musikalischen und poetischen Quellen der griechischen Antike genau studiert Aufgerauhter, signalhafter Instrumentalgrund trägt die Männerstimmen; einen Vokalsatz, der nicht erzählend gehalten ist, sondern ein harmonisch ebenmäßiges Schreiten, dessen Bewegung sich aus Sprachklang und Metrik herleitet.

Die aspektreiche Kageliade war bestückt mit der veritablen Uraufführung eines theatralischen Zyklus in vier „Stufen“: „Quatre degrės“ lautet auch der Titel. Was Kagel da erdacht und zusammen mit dem Bühnenbildner Achim Freyer szenisch-musikalisch realisiert hat, zwingt zur Bewunderung durch den Grad der Perfektion. Ausgangspunkt ist die „Dressur“, die erste Stufe; ein Instrumentalballett für drei Schlagzeuger, Pas de trois ohne Hoffnung, verinnerlichte tödliche Dressur mit einem Leitmotiv aus der Trivialmusik. „Präsentation“ - „Vorstellung“ - für Klavier und einen Darsteller ist eine bittere Persiflage auf das heruntergekommene Kabarett französischer Prägung, auf die Music- Hall, ein Zerrspiegel, in welchem Kagel grell die eigene Musikbranche als automatisiert und kaputt vorzeigt.

„Dėmėnagement“ - der „Umzug“ -, ein Schweigetheater für acht Bühnenarbeiter, bezieht seine Komik aus der Absurdität gefundener und gemachter Requisiten, deren geistlose Abfolge ihre Träger zu Karikaturen degradiert Da schon setzt Kagels seit „Staatstheater“ immer wieder registriertes Doppelspiel ein, das sich in „Variėtė“ zur abendfüllenden Großform steigert: Er bedient sich aus der Welt der Deklassierten - und bedient natürlich auch sie, das musikalisch in Verfall geratene Variėtė gewinnt den Nimbus einer Kultur, um die es aber - das weiß Kagel, das ist ja sein permanentes Thema - kaum besser bestellt ist. Nicht nur die Musik zu „Variėtė“ hat einen enervierenden Trauer- und Klageton, Klage kagelt clownisch und faunisch durch alle Stufen, und am Ende ist das Ganze nicht nur komisch und traurig, sondern - ungewollt - auch ein bißchen schäbig.

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