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Konservativer Klassiker?

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Was mich mit Boll verbindet, ist mein katholischer Glauben, was mich von ihm trennt, ist - so nahm ich bis vor kurzem an - die politische Einstellung. Er gut, mit Recht oder Unrecht, für das, was man gemeiniglich einen Linkskatholiken nennt, ich hingegen bin ein rechtsradikaler j Stockliberaler. Doch als alter literarischer Bewunderer wurden mir beim Lesen von Bolls neuestem Roman alle meine Erwartungen übertroffen.

Die virtuos geschriebene, dazu äußerst spannende „Fürsorgliche Belagerung“, die ich in einem (sehr langen) Zug fertig las, halte ich bei weitem für Bolls bestes Werk. Manchmal stolpert man zwar über Kapitelanfänge, die nicht gleich verraten, um welche Personen es da geht (der Dschungel der familiären Beziehungen in den unheüen Dynastien ist zuweilen zu dicht) und hie und da gibt es Böllesiana, die man nicht allzuleicht schlucken kann, so zum Beispiel der sexualdemokratisch veranlagte gräfliche Backfisch, der seinen juvenil-unerfahrenen Hauslehrer mit den tröstlichen Worten „Erbarmen wir uns unser“ in sein längst nicht mehr virginales Bett einlädt. So viel negative Lebensweisheit nimmt man einem sehr jungen Mädchen kaum ab.

Doch die Welt, in die uns Boll an den Ufern des Oberrheins einführt, gemahnt fast an Hieronymus Bosch, der gar nicht zufällig auch erwähnt wird... eine ganz und gar unheile Welt voller Sumpfblumen, die aber in der Mehrheit liebevoll behandelt werden. Käthe, die Frau des Zeitungsmagnaten Tolm, ist vielleicht die einzige wirklich „solide“ Person in dieser betrüblichen Flora. Auch Fritz Tolm, die Hauptfigur, hat seinen Glauben verloren, und seine Kinder sind auf“ alle möglichen schiefen Bahnen geraten. Dereine Sohn ist ein harter, radikaler Neulinker, ein ver-urteüter Terrorist und doch ein netter

Kerl, der mit einer Kommunistin zusammenlebt und an neue Untaten denkt. Die Tochter Sabine, unglücklich mit einem Spitzenmanager verheiratet, hat zwar ihren Glauben bewahrt, aber erwartet ein Kind von einem „Bullen“. Ein anderer Sohn ist bei der weich-sentimentalen Linken, die umweltschützlerisch den „Kapitalismus“ aus tiefstem Herzen verachtet. Es gibt aber auch Gestalten außerhalb der Tolm-Familie, die höchst unerfreulich wirken, so ein angenazter Krösus, der mit einem amerikanischen Major im ersten Rausch der „Befreiung“ eine Bank ausraubt und dabei zufällig eine Frau erschießt, worüber er nie hinwegkommt, und ein homosexueller „Kapitalist“, der sich umbringt

Doch das zentrale Faktum dieses Romans, dem man auch den kryptischen Titel verdankt, ist die überorganisierte Schutzbewachung, die dieser stinkreichen, ideologisch so gespaltenen Familie gegeben wird und ihr Privatleben einengt - und vergiftet. Fortwährend drohen den Tolms und ihren Freunden Mord und Entführung - potentiell auch aus dem eigenen Familienverband Die Schatten der Fälle Ponten und Schleyer fallen über die Tolms, die zum Teil in einem Schloß hausen, das einmal degenerierten Grafen gehört hat, aber sie erfreuen sich keineswegs ihres Daseins. Selbst das Schloß wird von den Fangarmen von Industrie und Kommerz bedroht. Die Bagger, Sattelschlepper und Krane warten schon auf ihr Opfer...

Dieser Roman ist ein Zeitgemälde, und es fragt sich, inwieweit das schreckliche Bild, das wir da bekommen, „den Tatsachen entspricht“. Ich selbst^hatte das Gefühl, daß hier lauter Extremfälle angehäuft, aber dabei die Grenzen des erlaubt Möglichen nicht überschritten wurden. Ein Romanschriftsteller ist nicht verpflichtet, uns nur statistisehe Durchschnitte aufzutischen und hat das gute Recht, mit Haupt- und Staatsaktionen zu kommen. Und es soll hier auch gleich gesagt werden, daß Boll fast alle seine unheldischen Helden liebevoll behandelt und nicht brutal karikiert.

Kein Zweifel: literarisch stehen wir hier einem bedeutenden Werk gegenüber, doch auch als Zeitdokument ist dieser hyperbolische Roman sehr aufschlußreich. In dieser Beziehung mag er dem Leser sehr verschiedene Eindrücke hinterlassen. Viel hängt davon ab, ob dieser die eher fürchterliche . Szenerie der Angst, der Unsicherheit, des Sittenverfalls und der Treulosigkeit aus der Froschperspektive der Jetztzeit oder von der hohen Warte der geschichtlichen Zeitläufe betrachtet. Dann kommt er vielleicht darauf, daß man vor fast 200 Jahren mit der Ersten Aufklärung und der Französischen Revolution eine verfallende, aber doch reformwillige Ordnung durch eine gefährliche Ideologie ersetzte, woraus die meisten Übel unserer Zeit geradlinig erwuchsen: ein hirnloser Fortschrittswahn, die Massenheere, Nationalismus, International-Sozia-lismus, Nationalsozialismus und alle anderen demokratischen oder undemokratischen Formen des Totali-tarismus.

Haben wir hier also tatsächlich ein Stück konservativer Literatur aus der Feder Heinrich Bolls? Da gibt es nur die Alternative: Entweder ist ihm da ehrlich, unvorsätzlich und unbewußt die Bestandsaufnahme einer furchtbaren Wahrheit gelungen oder er und sein Weltbüd haben sich radikal geändert. Wie dem auch immer sei: er hat uns einen urkonservativen, klassischen Roman geschenkt.

FÜRSORGLICHE BELAGERUNG. Roman von Heinrich Boll. Verlag Kiepenheuer & Witsch.Köln 1979,415 Seiten, öS 269-

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