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Laß es leben!

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Das Musical „Hair“ ist gewiß nicht, wie einige Hochjubler meinten, die gültige Selbstdarstellung und Selbstinterpretation der heutigen Jugend; aber zweifellos ist es etwas, mit dem ein beträchtlicher Teil dieser jüngsten Generation sich identifiziert hat und immer noch identifiziert. Diese Stadthallenoper offeriert zu stark reduzierten Preisen, im Ausverkauf eben, eine angeblich neue Natürlichkeit: das „einfache Leben“ im Gegensatz zur komplexen Kompliziertheit all dessen, was im weitesten Sinne unter den Begriff der Kultur fällt.

Unter dieser Einschränkung aber wird man gewissen Sentenzen des Stückes durchaus zustimmen können: „Ich bin arm und doch so reich“, singt einer, und zum Beweise dessen führt er an, was er hat: sein Haar und seinen Kopf und seine Stirn und sein Kinn und so weiter, „und eine Seele hab' ich auch“, was nun nicht einmal beweisbar, aber über aller Beweisbarkeit wahr ist; und er zieht die wunderschönste aller Bilanzen: „Ich bin reich, Mutter, weil ich leb'.“ Es wäre frivol, diesen frommen Kindertraum mit einem erwachsen tuenden „No na!“ einfach abzutun.

Wenn ich, der ich sozusagen und buchstäblich mit „Warum lügst du, Cheri?“ großgeworden bin, dieses heutige Operettentheater halbwegs recht verstehe, dann ist es doch so, daß das Haar sich als Inbegriff des Lebens anbietet, des Lebens im Sinn von natürlichem Wachstum, mit all seiner Rätselhaftigkeit: „Wenn ich das wüßt', warum mein Haar so ist? Es wächst so dicht, so schnell, fast kriminell. Mein Haar wächst pausenlos“ uns so weiter, bis zu dem Resümee: „Wunderbar ist so langes Haar.“ Weshalb der Sänger bittet: „Laß es leben!“ Und um dieser Bitte einen gewissermaßen naturrechtlichen und daher unabweisbaren Nachdruck zu geben, läßt er die Zeile folgen: „Gott hat's mir gegeben.“

Noch einmal: Auch in dem angenommenen Fall, die Autoren hätten allein aus schnödester Geldgier die Reime geschmiedet und die Töne gesetzt, bleibt die Tatsache, daß zahllose junge Menschen dieses Credo einer Ersatzreligion nachgebetet haben, lauthals und träumerisch und jubilierend. „Laß es leben! Gott hat's mir gegeben.“ Und das, wortwörtlich das, singt die Generation, die für die Abtreibung der Leibesfrucht auf die Barrikaden steigt!

Von einem Paradoxon kann da nicht mehr die Rede sein; das ist nackte und blanke Schizophrenie: die ach! all zu verständliche Schizophrenie einer Generation, die von ihren Eltern alles, aber wirklich auch alles vererbt bekommen hat mit Ausnahme des einen, das allem anderen erst seinen Sinnzusammenhang gibt: mit Ausnahme eines transzendentalen Bezugspunktes. Wahrlich, wahrlich: An unseren Früchten — den zwar leiblich in die Welt gesetzten, aber geistig abgetriebenen — können wir uns erkennen!

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