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Digital In Arbeit

Leben neben dem Uberfluß

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Armut - gibt es die heute in Österreich? Wenn ja, wo findet man sie? Wer, innerhalb unserer Wohlstandsgesellschaft, bekennt sich zu ihr, überwindet die Schwellenangst oder wird nicht als Sandler, Taugenichts, Arbeitsscheuer abgekanzelt? Wer geht schon auf die Straße, weil er arm ist? Und wer geht erst recht auf die Straße für die, die arm sind? Das monatliche Prq-Kopf-Einkommen in Osterreich ist ohnehin in den letzten dreißig Jahren auf das Elffache gestiegen.

Brutto-Einkommen, die über Teuerungsquoten, Lohnsteuerprogression und Anhebung der Sozialversicherung verschämt schweigen, verleihen den Statistiken positive Resultate und der

Regierung das Image einer beflissenen, gesunden Sozialpolitik. Arbeitslosigkeit wird mit möglichst tauglichen Mitteln bekämpft, Sozialhilfe wird gewährt, Wirtschaftswachstum scheinbar zielführend vorangetrieben — da ist keiner arm. Weil nicht sein kann, was nicht sein dürfte in einem Österreich, das seit nunmehr 16 Jahren sozialistischer Alleinregierung auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtet ist.

Als Bruno Kreisky im April 1970 diese neue Phase österreichischer Gesellschaftspolitik einleitete, bemühte er die Bibelworte von den Gerechten: Nicht die sind die Gerechten, die nie Unrecht tun, sondern jene, die von Zeit zu Zeit innehalten und sich ihres Unrechtes bewußt werden. Ein schönes Wort, ein gutes Wort, wenn Einge-j ständnisse zu mehr Vernunft oder größere Ideologie-Nähe verhelfen.

Wenn gesellschaftliche Gerechtigkeit auch gleichen Zugang zur Bildung (Stichwort Chancengleichheit) oder zum Recht (etwa im Konsumentenschutz) beinhaltet, so hat sie doch vor allem die materielle Verteilungsgerechtigkeit zu verwirklichen; wobei Gerechtigkeit in der primären Einkommensverteilung wie auch in der sekundären via Steuern und Transferleistungen zu berücksichtigen ist. Wie es nach 16 Jahren sozialistischer Alleinregierung um die materielle Gerechtigkeit in Österreich bestellt ist, erleuchteten die diesjährigen Arbeitnehmertage des Steirischen

ÖAAB in einer Podiumsdiskussion über die Frage „Auskommen mit dem Einkommen?“.

Nicht einmal die Geister der bedrohten obersteirischen Industrieregion rund um den Erzberg und die Donawitzer Hochöfen mußten beschworen werden, um aufzuzeigen, wie weit wir von der sozialen Gerechtigkeit entfernt sind. Auch die drückende Konkurrenz koreanischer Billigarbeit oder der unumgängliche Szenen-wec|sel zum mikroelektronischen Arbeitsmarkt hätten dankbare Sündenböcke abgegeben für die Tatsache, daß gerade in der südlichen Steiermark die Armut alteingesessen ist. Und zwar Armut trotz Arbeit.

Wenn, nach Darlegung von Hermann Schützenhöfer, Landtagsabgeordneter und Landessekretär des ÖAAB, der Arbeiter einer südsteirischen Produktionsstätte einer Vorarlberger Textilfirma mit knappen 4.900 Schilling seine Familie erhalten muß, so nimmt es nicht wunder, daß 25 Prozent der Alleinerhalter von vierköpfigen Familien unter der Armutsgrenze liegen.

Mit ebenso ernüchternden Zahlen belegte Professor Horst Knapp, daß der Anstieg der Massensteuern (Lohn- und Umsatzsteuer mit 427 Prozent) ungleich höher ist als der der Unternehmersteuer (veranlagte Einkommen-, Körperschafts- und Gewerbesteuer) mit nur 165 Prozent. Demnach ist das „arbeitslose“ Einkommen, das Karl Marx dem Kapitalismus gleichgesetzt hat, just unter sozialistischen Regierungen bedeutend rascher gestiegen als das Arbeitseinkommen: innerhalb der letzten 15 Jahre um 903 Prozent, gemessen an einem Anstieg der Brutto-Entgelte für unselbständige Arbeit von 284 Prozent.

Auskommen mit dem Einkommen? Angesichts der vorliegenden Zahlen auch: wie weiterkommen mit einer sozialen Grundstruktur, von der Schützenhöfer zu Recht feststellte, daß „mit ihr etwas nicht stimmt“. Möglicherweise tragen, wie in der Diskussion verlautete, auch manche liebgewordene Gewohnheiten zur Fragwürdigkeit dieser Struktur bei, Gewohnheiten wie Karenzgelder für bewußt unehelich zur Welt gebrachte Kinder, oder Arbeitslosenunterstützungen bei geschickt tempiertem „Nebenerwerb“ oder...

Die Sozialpolitik ist inflexibel geworden, und kaum gerechter.

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