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Leiden am Menschen

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Unsere Zeit rasanter Veränderungen fixiert den Blick auf die Gegenwart. In den heutigen Theaterstücken ist dies so sehr der Fall, daß die zurückliegenden Ursachen der vorgeführten Ereignisse kaum je aufgedeckt werden. Kein Woher, kein Wodurch. Voller Gegensatz zu dem Schauspiel „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O'Neill, das derzeit' im Akademietheater zu sehen ist. Die Menschen dieses Stückes beziehen die Gegenwart besessen auf Vergangenes, leiden daran.

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Unsere Zeit rasanter Veränderungen fixiert den Blick auf die Gegenwart. In den heutigen Theaterstücken ist dies so sehr der Fall, daß die zurückliegenden Ursachen der vorgeführten Ereignisse kaum je aufgedeckt werden. Kein Woher, kein Wodurch. Voller Gegensatz zu dem Schauspiel „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O'Neill, das derzeit' im Akademietheater zu sehen ist. Die Menschen dieses Stückes beziehen die Gegenwart besessen auf Vergangenes, leiden daran.

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Vier Personen, Vater, Mutter, zwei Söhne, dazu am Rand ein Hausmädchen. Der Vater James Tyrone, ein heruntergekommener Schauspieler, der in Grundstücken verlustreich spekuliert, gerne trinkt, wird Geizhals gescholten, den älteren, völlig haltlosen.“ Sohn Jarniie, eine Niete, nennt der Vater „besoffenes Wrack“, der jüngere stellenlose Edmund zog sich durch seine Lebensweise Tuberkulose zu. Und die Mutter Mary wähnt sich am Tod ihres zweiten Kindes schuldig, ist seither, trotz Entwöhnungskuren, dem Rauschgift verfallen und wird schließlich wahnsinnig.

In Gesprächen, in peinigenden Erinnerungen, in heftigen gegenseitigen Anklagen, Beschuldigungen, in Haß und Liebe, in Streit und Versöhnung ersteht das Leben dieser Familie im Lauf eines Tags. Das überaus dichte psychologische Gewebe ergibt ein geradezu klinisches Bild von Menschen, die alle versagt haben, sich dessen bewußt sind oder dieses Wissen verdrängen. Das Unentrinnbare, das zwangläufig Unlösbare der Verhaftung an ihre Wesensart zieht in den Bann dieses Stücks. Man denkt an Strindberg, den O'Neill in seiner Nobelpreis-Rede als „unser Vorbild“ bezeichnete, doch verharrt O'Neill in einem Bereich ohne spürbare geheimnisvolle Gewalten.

Unter der subtilen Regie von, Rudolf Steinboeck spielt Käthe Gold ergreifend die Mutter mit leeren, fahrigen Gesten, man sieht geradezu die Wand, die sie um sich aufgerichtet hat und die zu durchbrechen ihr nicht gelingt. Als Vater versucht Paul Hoffmann mit Gelassenheit über der Situation zu bleiben, Hans-jürgen Wussow ist glaubhaft als „Wrack“, bei berechtigt geringen Andeutungen, Joachim Bissmeier wirkt als jüngerer Sohn — ein Selbstbildnis O'Neills — durch Verhaltenheit, Helma Gautier hat als Hausmädchen die Frische einer gesunden Natur. Dem Holzhaus dieser Familie gibt der Bühnenbildner Lois Egg das helle Grau des Nebels, von dem immer wieder die Rede ist. *

Zu aktuellen Ereignissen, zu dem UNO-Beschluß in Sachen Zionismus, zu der Affäre Kreisky-Wiesenthal, bietet das derzeit im Theater in der Josefstadt gespielte Stück unbeabsichtigt eine Erweiterung dieses Problemkreises. „Dreyfus ...“ heißt das Stück, das von dem 36jährigen Jean-Claude Grumberg stammt, einem in

Paris geborenen Sohn jüdischer, aus Rumänien eingewanderter Eltern.

Es wird da keineswegs, wie der Titel vermuten ließe, der Dreyfus-Skandal unmittelbar vorgeführt, sondern jüdische Handwerker proben im Jahre 1930 im Vorort einer kleinen polnischen Stadt ein Stück um diesen französischen jüdischen Hauptmann, das einer von ihnen, der Schriftsetzer Moritz, verfaßt hat. Wozu diese Zweischichtigkeit? Indem sich die Darsteller mit ihren Rollen, mit den Szenen auseinandersetzen, Schwierigkeiten zu überwinden versuchen, werden völlig verschiedene Einstellungen, im besonderen zur Frage der Assimilierung, erkennbar. Der junge Schuster Michael, der Dreyfus darstellen soll, kann sich aus innerem Widerstand dagegen, einen französischen Offizier zu spielen, in diese Rolle gar nicht einleben. Der Zionismus als Zukunftsaus-sicht kommt durch eine Randfigur zur Sprache.

Das alles wirkt nicht schwer, sondern locker, heiter, durch das unterschiedliche Verhalten dieser Laienspieler bei ihrem ungewohnten Tun, bis brutale antisemitische Kerle ins Probenlokal dringen, aber vertrieben werden. Eine Vorahnung des Kommenden? Nein, dem Stück ist eine Briefszene mit hoffnungsvoller Zukunftssicht angehängt: Der Schriftsetzer, Autor und Regisseur der abgebrochenen Proben ist nun Arbeiter in Warschau, schwärmt von der Proletarischen Revolution, von der Sowjetunion. Der Schuster lebt mit der Tochter des Friseurs in Berlin, lobt überaus die Deutschen. Wir wissen, was kam. Bitterer Nachgeschmack. Das voraufgegangene allzu Unbeschwerte verweist aber auf einen Autor, der dem Ungeheuerlichen offenbar erfreulich ferne stand.

Vortreffliches Spiel unter der Regie von Michael Kehlmann. Ein impulsiver „Regisseur“ ist Ludwig Hirsch, das Hilflose des Dreyfus-Dar-stellers, hat Christian Futterknecht, großartige Leitung von Leopold Rudolf als der von Theaterleidenschaft besessene, unbegabte Friseur. Zu erwähnen: Guido Wieland, Harald Harth, Grete Zimmer, Marianne Nentwich. Gottfried Neumann-Spallart überhöhte sein schlichtes Bühnenbild durch eine Region der Phantasie.

Ein Rechtsanwalt wird dauernd mit menschlichen Schicksalen konfrontiert, Stoff für Autoren. Balcac besaß Anwaltspraxis, Ludwig Thoma war Rechtsanwalt in Dachau und München.' In eine Rechtsanwaltskanzlei führt das wenig bekannte, von Ludwig Thoma nachgelassene Lustspiel „Die Witwen“, das derzeit vom Volkstheater in den Wiener Außenbezirken vorgeführt wird. Ein unverheirateter Rechtsanwalt als Angriffsziel heiratslustiger Witwen und einer Haushälterin, die ihn verkuppeln möchte, ein Rechtsanwalt, der nach glaubhaftem Urteil seines Buchhalters den Klienten die Prozesse eher ausredet als sie aus ihnen „herauszukratzen“, das ergibt ein leichtgewichtiges Stück für den Un-terhaltungsanspruch von einst. Nichts spürt man da von dem widerborstigen Satiriker Thoma. Ansprechendes Spiel unter der Regie von Helmuth Froschauer mit Adolf Lukan und Gerhard Steffen, mit Wolfgang Dauscha und Ludwig Blaha, sowie Marianne Gerzner in den wichtigsten Rollen. Den Büroraum richtete Gloria Berg milieugerecht ein.

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