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Seitensprünge

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Scharfe Angriffe gegen die herrschende Gesellschaft gibt es nicht erst Seit heute. Die Vehemenz, mit der Ibsen im besonderen in dem Drama „Gespenster“ die damaligen Grundsätze des Wohlverhaltens, der Ordnung angriff, riefen einen Sturm der Entrüstung hervor. Das derzeitige Gastspiel des Hamburger Thalia-Theaters mit diesem Stück im Burgtheater gibt Gelegenheit, zu Ibsens Sicht auf wesentliche Fragen des menschlichen Zusammenlebens erneut Stellung zu nehmen.

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Scharfe Angriffe gegen die herrschende Gesellschaft gibt es nicht erst Seit heute. Die Vehemenz, mit der Ibsen im besonderen in dem Drama „Gespenster“ die damaligen Grundsätze des Wohlverhaltens, der Ordnung angriff, riefen einen Sturm der Entrüstung hervor. Das derzeitige Gastspiel des Hamburger Thalia-Theaters mit diesem Stück im Burgtheater gibt Gelegenheit, zu Ibsens Sicht auf wesentliche Fragen des menschlichen Zusammenlebens erneut Stellung zu nehmen.

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Der Junge Oswald wird bekanntlich im Gefolge einer Paralyse, die durch das Lotterleben seines Vaters verursacht ist, wahnsinnig. Ein unverschuldetes, ebenso furchtbares wie ergreifendes Schicksal. Ibsens Angriff geht nun gegen das „Joch der Pflicht und des Gehorsams“, gegen die Aufrechterhaltung einer Ehe um jeden Preis. Denn erst dadurch, daß Pastor Manders die zu ihm geflüchtete Frau Alving dahin brachte, die zerrüttete Ehe weiterzuführen, wurde ihr Sohn geboren. Ibsen verteidigt die Ehescheidung, die von dem protestantischen Geistlichen im vorliegenden Fall abgelehnt wurde. Doch hierin die entscheidende Ursache des Verhängnisses zu sehen, wäre falsch. Frau Alving hätte nie diesen Lüstling heiraten dürfen, aber sie überlegte gar nicht, folgte dem berechnenden Ratschlag von Mutter und Tanten, wonach es aus finanziellen Gründen Wahnsinn gewesen wäre, AlvingS Antrag auszuschlagen. Sie Ist also selbst schuld. Es sind keineswegs „Gesetz und Ordnung“, von denen alles Unglück der Welt kommt, Wie Ibsen sie sagen läßt. Dadurch, daß Sich Frau Alving der Heirat nicht widersetzte, Hegt die letzte Ursache des Unheils im Individuellen, nicht im Gesellschaftlichen, was aber der Gesellschaftskritiker Ibsert nur am Rand wahrhaben will. Ibsen nimmt die heutige einseitige soziologische Sicht auf die menschlichen Verhaltensweisen vorweg.

Es wurden gegen das Stück psychiatrische Einwände, so von August Forel, erhoben, doch davon sei abgesehen. Was hier beeindruckt, ist die Zwangsläufigkeit, mit der die Motive, die besondere Artung der Charaktere und ihr Verhalten ineinander verzahnt sind, so daß sich — im

Gegensatz zur heutigen Dramatik — ein fast maschinell wirkender Ablauf ergibt. Dies szenisch umzusetzen, gelingt August Everding als Regisseur vollauf. Eigentlich ist das ein Kammerspiel. Auf der großen Bühne erhalten die Dialoge aber unterschiedlicheres Gewicht. Das Bühnenbild von Jörg Zimmermann bietet einen verfremdeten Realismus: Es zeigt eine Halle ganz in Schwarz mit erheblich überdimensionierten Pfeilern. Schwarze Vorhänge verdecken zeitweise die hohen Fenster. Paula Wessely ist diesmal Gast. Sie gibt der Frau Alving den Ernst und die Klugheit der in bitterer Lebenserfahrung gereiften Frau. Sie tarnt beherrscht die Angst, das Wissen um die nunmehrige Sinnlosigkeit ihres Lebens und erstickt das Entsetzen über das ausbrechende Unheil in einem Aufschrei. Eine hervorragende Leistung. Dem Pastor gibt Hans Paetsch jene moralisierende Selbstgerechtigkeit, die einer letztlich egoistischen Haltung entspringt; daß er die Liebe zu dieser Frau einst abwürgte, ist nicht zu spüren. Ralf Schermuly hat als Oswald ohne Übertreibung das Fahrige des vom Wahnsinn Bedrohten. Der Engstrand von Rene Deltgen ist ganz unterwürfig witzige Verschlagenheit. Nur Marlies Engel wirkt in der Rolle der vitalen Regine als Fehlbesetzung. *

Die Bedeutung von Hermann Bahr beruht vor allem auf seinen Tagebüchern, die heute fast niemand kennt, auch auf seinen größeren Essays. Aber die nahezu verwirrende Fülle seines überaus vielfältigen und reichen Schaffens umfaßt auch zahlreiche ernste und heitere Bühnenwerke, von denen die im Jahr 1910 entstandene Komödie „Die Kinder“ derzeit vom Volkstheater in den

Wiener Außenbezirken vorgeführt wird.

In diesem Stück, das aus der damaligen gesellschaftlichen Situation heraus geschrieben ist, ergibt es noch einen Gegensatz von Adel und Bürgertum, der selbst bei sehr nahen Beziehungen von Spannungen erfüllt sein konnte. Es geht darum, daß Anna, die Tochter eines Hofrats und berühmten Chirurgen, und Conrad, der Sohn eines Grafen, heiraten Wollen, der Hofrat sie aber für Geschwister hält, da Conrad eigentlich sein Sohn ist. Tableau! Doch die Komödie wendet sich zum Schwank, Anna ist nicht des Hofrats, sondern des Grafen Tochter. Daß beide Väter Gehörnte sind, ermöglicht nun das Glück der Kinder. Das ist der Witz. Aber die Szenen bieten mehr, echte Menschlichkeit wird spürbar. Der Regisseur Oskar Willner bietet eine treffliche Aufführung mit Dolores Schmidinger als frisch unmittelbare, herzhaft impulsive Anna, mit Peter Hey —> sehr überzeugend! — als ruhig überlegenem und dann doch etwas aus dem Gleichgewicht geratenem Hofrat, mit Wolfgang Hübsch, Uwe Behrend, Benno Smytt und Willner selbst in den weiteren Rollen. Ma.ri Tschunko schuf das ansprechende Bühnenbild.

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