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Lotte Lehmann †

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In Wien war sie zum letztenmal zur Hundertjahrfeier der Staatsoper. Gesehen und gehört haben wir sie zuletzt bei einem ihr zu Ehren veranstalteten Empfang in der Salzburger Residenz während der Festspiele 1969. Aber diese Veranstaltung hatte so gar nichts Förmlich-Feierliches, denn nach der ersten halben Stunde des Herumstehens entwickelte sich eine Art Gespräch zwischen Lotte Lehmann, den vielen hier anwesenden Verehrern ihrer Kunst und mehreren Journalisten. Fast nach jeder Frage dachte man „O weh!“ Aber nach jeder Antwort gab es einen Lacher.

Lotte Lehmann, die vor allem die jüngeren Besucher nie reden gehört hatten, war nämlich, in ihrem unverfälschten Berlinerisch — trotz 22jähriger Bindung und langer Aufenthalte in Österreich, speziell in Wien, von einer verblüffenden Natürlichkeit und Direktheit. Da gab es keine „schönen Sprüche“ und kurze konventionelle Floskeln. Da wurde freilich auch nicht aus der Schule ihres Privatlebens geplaudert (das übrigens nie Stoff für Klatschkolumnen gegeben hat). Der ganz starke Eindruck war: eine große Dame und eine kluge Frau.

Daß sie eine große Künstlerin war, wußten wir. Zum Glück kann man das auch noch jenen plausibel machen, die sie nie auf der Opernbühne erlebt haben i—

denn sie verließ Österreich, nach einem ersten Besuch 1930 und ihrem späteren Debüt an der Metropolitan vier Jahre später bereits 1938. Doch hierüber später.

Lotte Lehmann, in Perleberg dicht bei Berlin geboren, trat zum erstenmal 1910 als Edelknabe in „Tannhäuser“ in Hamburg auf (einer der fünf Dirigenten, die damals dort tätig waren, hieß Otto Klemperer). Bereits 1916 debütierte sie an der Wiener Staatsoper, die ihr zur Heimat wurde. Hier sprang sie für die erkrankte Gutheil-Schoder in der zweiten Fassung der „Ariadne“ von Richard Strauss ein, und zwar als „Komponist“ des Vorspiels. Ihre Popularität aber verdankt sie vor allem ihrer unvergleichlichen Interpretation der Marschallin im „Rosenkavalier“, die sie hier 1924 zum erstenmal sang. Und als „die Marschallin“ wurde sie mehr als zwanzig Jahre lang gefeiert, mit dieser Rolle verabschiedete sich Lotte Lehmann in der Met von der Opernbühne — und als solcher gedachte man ihrer vor allem auch in den meisten Nachrufen.

Aber Lotte Lehmann hatte mehr als fünfzig große Partien in ihrem Repertoire, sie war nicht nur eine wunderbar ergreifende Leonore, eine hinreißende Pucci-ni-Interpretin und eindrucksvolle Wagner-Sängerin, sondern auch die wahrscheinlich größte Lied-interpretin ihrer Zeit. Als Begleiter hatte sie, sowohl bei den Salzburger Festspielen, bei denen

sie seit 1926 mitwirkte, oft Bruno Walter: erst in Europa, später in den USA. Denn zu den Verehrern ihrer Kunst gehörten viele bedeutende Musiker, wie Richard Strauss, Pfitzner und Puccini,

Clemens Kraus, Franz Schalk, Furtwängler und Toscanini, aber auch Künstler aus anderen Bereichen, wie zum Beispiel Thomas Mann, der sie immer mit „Liebe Frau Sonne“ titulierte.

Worin lag nun Lotte Lehmanns besonderer Zauber? Wir können aus vielen alten und auch einigen neueren Schallplatten einen Eindruck davon bekommen (ihre Diskographie umfaßt etwa zehn Druckseiten): Es war der stets einfühlsame ergreifende Ausdruck — und ein ganz besonders schönes Timbre. An großen Opernabenden konnte es geschehen, daß sie ein wenig unsicher war, vor allem rhythmisch, und gelegentlich auch „schmiß“. Aber dem orphischen Wohllaut ihrer Stimme und ihrem stets fraulich-dezenten Spiel konnte sich niemand entziehen.

Und Lotte Lehmann war nicht nur Sängerin, sondern einige? andere mehr. Nachdem sie sich zu Beginn des Jahres 1951 auch als Konzertsängerin verabschiedet hatte, begann sie zu unterrichten, setzte ihre schriftstellerischen Arbeiten fort, publizierte rund zehn Schriften, begann zu malen, fertigte Collagen, originelle „Filzbilder“, Plastiken und Mosaiken an. Vier Ehrendoktorate und ein gutes Dutzend Medaillen und Ehrentitel bezeugen, daß die Welt wußte, was sie an Lotte Lehmann hatte, die, 88 Jahre alt, ihr erfülltes Leben am 27. August in ihrem Heim in Santa Barbara (Kalifornien) beschloß.

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