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Mehr Kafka als Kisdi

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Die beiden Herren an der Ecke Vinohradskä-Balbinovä geben bereitwillig Auskunft: Es sei bestimmt sehr schade, daß jetzt so viele Häuser rundum das Museum der Spitzhacke zum Opfer fielen; abfer wo gehobelt wird, da fallen eben Späne. Aber sie hätten es ohnedies nicht gekannt, wie es früher war. Erst ein, halbes Jähjr. sind sie. im Land und, na ja, der Kontakt mit der Bevölkerung eben ein wenig schwierig. iÜbefflüssig, zu sagen, daß diese ZufaUsunterhaltung russisch geführt wurde, in einer Sprache, der man heute in Prag eben viel öfter begegnet lals früher. Auch im neuen Kaufhaus am .Wenzelsplatz, das von einer schwedischen Firma errichtet wurde (wie junge Leute mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut gerne jedem erzählen), sieht man zahlreiche Exponenten des selbsternannten neuen Bruder-volkes.

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Die beiden Herren an der Ecke Vinohradskä-Balbinovä geben bereitwillig Auskunft: Es sei bestimmt sehr schade, daß jetzt so viele Häuser rundum das Museum der Spitzhacke zum Opfer fielen; abfer wo gehobelt wird, da fallen eben Späne. Aber sie hätten es ohnedies nicht gekannt, wie es früher war. Erst ein, halbes Jähjr. sind sie. im Land und, na ja, der Kontakt mit der Bevölkerung eben ein wenig schwierig. iÜbefflüssig, zu sagen, daß diese ZufaUsunterhaltung russisch geführt wurde, in einer Sprache, der man heute in Prag eben viel öfter begegnet lals früher. Auch im neuen Kaufhaus am .Wenzelsplatz, das von einer schwedischen Firma errichtet wurde (wie junge Leute mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut gerne jedem erzählen), sieht man zahlreiche Exponenten des selbsternannten neuen Bruder-volkes.

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Und noch ein zweites Merkmal kennzeichnet das Prag des Novembers 1975: das Scherengitter vor der Wohnungstür, davor ein Stapel Zeitungen, die niemals mehr jemand lesen wird, Ausgaben von Rüde Prävo aus dem Jahre 1968, verschimmelt und vergilbt. Der Wohnungsnachbar — „Schauen Sie, ich bin halt dageblieben, ich bin schon alt“ — redet erst, nachdem er sich vergewissert hat, daß im Treppenhaus weder unten noch oben Lauscher anwesend sind: „Zuerst ist der Jifi abgehauen, und dann auch die Vlasta. Vier Koffer haben sie in den Skoda gepackt und nichts wie weg. In Frankfurt leben sie jetzt, haben wir gehört. Aber genau wissen wir das nicht. Sie schreiben nicht — ist vielleicht auch besser so. Eine Karte aus der Bundesrepublik, oder mehrere, da kann man leicht Schwierigkeiten bekommen — mit denen.“ Dabei weist der Daumen des alten Herrn steil himmelwärts.

Es sind jene, die täglich morgens mit ihren kugelsicheren Luxuslimousinen mit Chauffeur in ihre Partei-und Staatsbüros fahren. Bei Einbruch der Dunkelheit geht es dann heimwärts in die Villen im sechsten oder siebenten Bezirk. Auch das Leben des hochgestellten Parteifunktionärs ist in- Prag seit 1968 nicht leichter geworden-

Damit sich diese für beide Seiten unerfreuliche Situation ändere und im Hinblick darauf, daß beim Parteitag im April möglichst wenig Wirbel entstehe, tasten sich die Funktionäre an bisher unliebsame Zeitgenossen wieder heran. So auch an meinen Freund Milan, der früher einmal ein hervorragender Schauspieler war, um den sich die führenden Bühnen Prags stritten. (Name und Umstände wurden geändert.) Auch das Fernsehen gab ihm Rollen und auch der damals noch weltberühmte tschechische Film. Das änderte sich 1969 schlagartig. Milan erzählt selbst: „Damals bekam ich einen Brief, wonach ich mich an einem Theater in der Provinz zu melden hätte. Ich fuhr dorthin und der Direktor sagte mir: ,Lieber Freund, ich weiß, Sie sind gut. Aber

— wenn ich sie hier engagiere, bekomme ich ganz bestimmt Schwierigkeiten und die anderen Kollegen auch. Machen wir einen Kompromiß und ich schreibe dem Komitee, daß für Ihr Rollenfach in unserem kommenden Spielplan kein Platz ist. Fahren Sie zurück nach Prag und warten sie ab. Alles wird sich ändern.'

Es änderte sich aber nichts.“

Milan gab Schauspielunterricht, bewarb sich da und dort — überall vergebens. Er sagt heute: „Eine schreckliche Situation. Unvorstellbar für unser Gesellschaftssystem, in dem doch jeder das Recht auf Arbeit hat.“

Jetzt wolle man ihm — und wie er in der Zwischenzeit erfahren hatte, auch zahlreichen seiner Gesinnungsgenossen — wieder Rollen geben

— oder ihn nur aufweichen, einseifen, maximal bis zum Frühjahr und bis zur vielfach erwarteten Machtreduzierung Gustav Husaks, nach dem endgültigen Aufstieg solcher Leute wie Indra, Bilak und Strougal.

Nein, das ist nicht das Prag des Egon Erwin Kisch oder des Hasek, es ist nicht einmal mehr das Prag des Max Brod mit seiner verrückten Kati, es ist das Prag der ausweglosen Mysterien eines Franz Kafka geworden. Ziellos, ohne Orientierungsmöglichkeiten, ohne geistige Abstüt-zung irren die einstmals geistig Schaffenden umher, ohne positiven Aspekt für die Zukunft. Sieben Jahre nach dem blutigen Aufstand von Budapest hatte ; Janos Kädär schon längst zahlreiche Reformen in die Wege geleitet, die den Bürgern das Leben erträglicher machten. Sieben Jahre nach dem Ende des Prager Frühlings expandieren in Prag nur die Tristesse — und der Alkoholismus.

Versuchsballons der Regierungspartei sind keine Seifenblasen. Der neueste Versuchsballon soll wohl testen, welche Reaktionen das hervorrufen würde, was der Versuchsballonfahrer, ein Kolumnist der „AZ“, in einer Kritik am demokratischen Institut des Volksbegehrens so formulierte: „Die Reformen zur Änderung dieses Zustandes, die bereits die Regierung Kreisky II ins Auge gefaßt hat, sollten nun in die Tat umgesetzt werden.“

Der Ballonpilot kritisiert an der derzeitigen gesetzlichen Regelung die „reichlich aufwendige Interpellation“ sowie die Unmöglichkeit, zu erfahren, „wie viele Stimmberechtigte anderer Meinung sind — neben dem Verdacht erzwungener Ja-Unterschriften“. Denkt etwa dieser oder jener an' ein „Gegen-Volksbegeh-ren“, an das Unterlaufen unbequemer Gesetzesinitiativen durch Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft? Das gäbe aber schöne Schlammschlachten. Oder sollen dem Volksbegehren durch Änderung des Ausführungsgesetzes die Zähne gezogen werden?

Ein rechtzeitiger Blick des Kanzlers in die Verfassung kann uns solche Reduzierung demokratischer Rechte ersparen. Denn die Möglichkeit, auch jene zu Wort kommen zu lassen, die etwa einem Volksbegehren gegen das Volksbegehren der „Aktion Leben“ ihre Stimme gegeben hätten, besteht längst. Artikel 43 der Bundesverfassung sieht die Möglichkeit vor, jeden Gesetzesbeschluß des Nationalrates vor seiner Beurkundung durch den Bundespräsidenten einer Volksabstimmung zu unterziehen.

Es wäre also der demokratischste Weg in dieser kontroversiellen Frage, den Gesetzesvorschlag der „Aktion Leben“ anzunehmen und dem „Ja“ oder „Nein“ aller stimmberechtigten Österreicher auszuliefern. Dazu genügt die einfache Mehrheit Aber es wäre wohl mit keinem einstimmigen „Ja“ des Nationalrates zu einer Volksabstimmung zu rechnen.

Die Volksabstimmung ist die ideale Waage, um festzustellen, wieviel die von den Initiatoren eines Volksbegehrens gesammelten Stimmen wirklich wiegeh.

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