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Millers Reise

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Warum ist dieses Büchlein von Henry Miller so erfreulich und wichtig?

Weil es — beginnen wir nun einmal damit — ganz ungeniert hingeschrieben worden ist, für Freunde und Bekannte: über Griechenland, über die Malerei (nämlich die eigene, denn Miller aquarelliert auch) über das Altem und über den Selbstmord eines japanischen Poeten. Dabei kommt aber Miller immer wieder auf sein wichtigstes Thema zurück: auf den Menschen, wie er wirklich ist, wie er da steht gegen Ende dieses 20. Jahrhunderts, von Einbildungen geblendet und von Ideen verführt. Diese Einbildungen und Ideen werden hauptsächlich von Dummköpfen vertreten, die sich einen schön abgerundeten Aberglauben erschaffen haben, der sehr wissenschaftlich auftritt und sich auch noch fortschrittlich gebärdet. Henry Miller entlarvt diese humorlose Scharlatanerie.

Ich zitiere: ,,Der Preis für all die von der westlichen Welt angebotenen, scheinbaren Annehmlichkeiten und vorteilhaften Entwicklungen ist hoch. Der Preis ist der Tod, der Tod nicht in kleinen Raten, sondern der Tod auf der ganzen Linie. Der Tod des Indiivilduums, der Tod des Kollektivs, der Tod des ganzen Planeten — dies ist das hinter den einschmeichelnden Worten der Fortschrittsverfechter versteckte Versprechen.“

Die paar Sätze zeigen auch die Identität zwischen Inhalt und Form. Der ungenierte Ton, die scheinbar ganz sprunghafte und subjektive Art der Fragestellung, die lebendige Dialektik des Augenblicks bewirken, daß wir die Entstehung dieser Gedanken miterleben können — ganz so, wie es übrigens Heinrich von Kleist gefordert hat in seinem Fragment „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Miller will nicht ewige Weisheiten verkünden, da er weder an die Existenz solcher Weisheiten noch an einen Sinn solchen Verkündens glauben kann. Gerade durch diesen Verzicht aber, durch das vitale und sinnliche Improvisieren, bekommt er die Wahrheit in den Griff.

Etwa in dieser Fragestellung: „Was ist Geschichte anderes als eine Fiktion, die uns in Schlaf lullt oder unsere Ängste schürt? Sind wir ein Teil der Geschichte oder ist die Geschichte ein Teil von uns? — Wir können nichts voraussehen, weder unseren Untergang noch unsere Rettung.“

Da schauen die Schöngeister verschiedener Couleurs verärgert auf den alten Mann aus Amerika. Er will ihnen ihr liebstes Spielzeug nehmen! Er will sie sogar unsicher machen, nämlich hinauswerfen aus der Vorstellung eines geregelten historischen Ablaufes, in dem sie sich doch bereits ein so hübsches Plätzchen gesichert haben! Er will sie als armselige Sprachjongleure entlarven, als schicke Snobs und modische Scharlatane, als menschliche Wesen, die den Zeigefinger heben, da sie etwas anderes nicht mehr können.

Die heutige deutsche Literatur braucht nichts so sehr wie dieses Beispiel vom Mut zu einem wärmenden, sinnlichen, menschlichen Chaos. Sie braucht einen, der endlich solche Sätze ausspricht: „Was in unserer heutigen Welt schmerzlich fehlt, sind Größe, Schönheit, Liebe, Mitgefühl — und Freiheit. Die Tage der großen Männer, der großen Führer, der großen Denker sind vorbei. Stattdessen brüten wir ein Gezücht von Unholden, Meuchelmördern, Terroristen aus.“

Das ist die Stimme jener letzten großen Generation, die noch nicht durch falsche Propheten verwirrt, durch Diktatoren geschwächt, durch Massenmord auf Schlachtfeldern und im Konzentrationslager dezimiert war, die Stimme jener unvergeßlichen Schelme und Genies, die auch aus Henry Millers Buch hervortreten: Modigliani, Max Jacob, Braque, Andre Salmon, Apollinaire. Sie sind es, die nicht nur ihren Gefährten, sondern auch den heutigen Leser einladen: zur guten, fröhlichen, abenteuerlustigen Kumpanei.

REISE IN EIN ALTES LAND. Skizzen für meine Freunde, von Henry MiUer. List Verlag, München, 154 Seiten, öS 138,60.

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