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Musikland Österreich unterentwickelt

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Ein Plädoyer für das Musikmachen.

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Ein Plädoyer für das Musikmachen.

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Ich bin der Meinung, daß wir zu viel Musik hören, zu hören gezwungen werden oder uns freiwillig von ihr berieseln lassen. Und daß wir zuwenig Musik machen. Denn das Verhältnis zur Musik von einem Menschen, der sich selbst in irgend einer Form einmal aktiv musikalisch betätigt hat, ist völlig verschieden von jenem, der Musik bloß hört, also nur passiv genießt oder über sich ergehen läßt (Ich vereinfache ganz bewußt, denn es gibt sehr unterschiedliche Arten des Hörens!).

Und gibt es bei uns noch Hausmusik? Nur selten hört man davon. Woran das liegt? In erster Linie natürlich an dem Überangebot an mechanisch reproduzierbarer Musik, auch fürs Haus (Radio, Schallplatten, Recorder), so daß nur noch bei ganz wenigen Menschen das Bedürfnis nach Selbstbetätigung aufkommt. Und wie wird gehört? Zumeist oberflächlich, mit halbem Ohr und ohne Bewußtwerdung dessen, was da geschieht.

Die Ursache von all dem, jedenfalls von vielem, ist der mangelhafte Musikunterricht, ist die karge Stundenzahil, die während der Schulzeit der Musik gewidmet wird, liegt in der manchmal unzureichenden Ausbildung der Musiklehrer (vor allem was das Spielen eines Instruments betrifft), in disziplinaren Schwierigkeiten, über die vor allem jüngere Musikleherinnen klagen, in der Tatsache, daß Musikstunden oft ausfallen usw. usw. Aber diesen Schwierigkeiten werden wir einmal nach Schulbeginn eine ausführliche Studie widmen...

Doch was könnte, zunächst auf pädagogischem Gebiet, im Idealfall geschehen? Wir kennen nur ein positives Beispiel, das allerdings so eindrucksvoll ist, daß man daraus Mut schöpfen kann. Wir meinen Ungarn, das durch eines einzigen Mannes Initiative und unermüdliche Tätigkeit auf diesem Gebiet in ein Land von Musikern verwandelt wurde. Zoltán Kodály, Jahrgang 1882, begann bereits 1903, gemeinsam mit Béla Bartók, mit folkloristischen Forschungen und Sammlungen. Daraus schöpfte er die Kraft und Überzeugung, daß energische pädagogische Maßnahmen notwendig seien, der drohenden musikalischen Verkümmerung und Verderbnis zu begegnen. 1937 bis 1942 gab er die ersten Schulgesangsbücher und die „Bicinia Hungarica“ heraus.

Seine Autorität dankt Kodály vor allem seinem Weltruf als Komponist, zumindest in späteren Jahren. Er war nicht nur Präsident des Musiker- und Komponistenverbandes, Inhaber mehrerer in- und ausländischer Ehrentitel und Auszeichnungen — sondern selbst jahrzehntelang aktiver Musikpädagoge.

All dem verdankt er die Autorität, mit der er, natürlich mit Hilfe zahlloser Schüler, ein Reformwerk ohnegleichen durchsetzte,' dessen Endziel die Erziehung seines Volkes zur Hochkultur, zum Menschheitsbewußtsein war und das die Gründung zahlloser Chöre und Jugendsingkreise initiierte. In den Schulen aber, und zwar in sämtlichen Typen, von der ersten bis zur letzten Klasse, setzte er eine Musikstunde täglich durch! (Das ist, allgemein gesehen, deshalb nicht übertrieben, weil ein guter Musikunterricht gleichzeitig auch eine gewisse Entspannung bedeutet und das Lernen in den anderen Fächern fördert.) ,

Und bei uns? Aus der Schule mit unzureichenden Kenntnissen und Fertigkeiten entlassen, sieht sich der Jugendliche, das Kind, einem Überangebot gegenüber. Von den Hauptschalträgern haben wir schon gesprochen. Dazu kommen nicht weniger als etwa 100 Konzerte pro Saison, die, in dankenswerter Weise, unsere großen musikveranstaltenden Gesellschaften offerieren. Dazu kommt das Angebot der „Jeunesses Musicales“, des — gemeinsam mit dem ORF — größten Musikunternehmers der Welt mit etwa 20 Zyklen und über 150 öffentlichen Konzerten pro Saison. Zu sehr ermäßigten Preisen.

Und da erlebt man dann das Merkwürdige, Besorgniserregende: viele dieser Konzerte sind zwar ausabonniert, aber schlecht besucht. Das heißt: man hat, falls desinteressiert oder verhindert, nicht einmal einen Ersatzmann für den freien Sitz gefunden. Womit bewiesen erscheint, daß ein Überangebot die Nachfrage nicht etwa, wie es die Regel ist, steigert, sondern auch drosselt.' Weil die angebotene Ware „zu billig“ Ist. Und warum das so ist, haben wir durch obenstehende skizzenhafte Ausführungen zu begründen versucht.

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