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Nach vollzogenem Weltuntergang

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Mein lieber Onkel Torberg, die Tante Jolesch, Sie wissen es, war. meine Großmama, wenn auch nur fast, weil sie leider dann doch nicht den Mann geheiratet hat, der später mein Großpapa wurde. Ich habe sie trotzdem geliebt, oder eben deshalb, nur ist sie zu früh gestorben, ich habe sie kaum gekannt. Und ich bin Ihnen dankbar, wenn Sie mir was erzählen von ihr — und von überhaupt damals. Zum Beispiel aus Ischl vom Kaiser Franz Joseph und jenem Juden, der seinen Hut auf dem Kopf behielt, und der Kaiser erahnte, warum der das tat. Denn dieser vom gesamteuropäischen Schwachsinn aus dem Geschichtsbild in den Film verdrängte Vielvölker-Vater war halt noch lange kein Herrenmensch, sondern nur schlicht ein Herr (und das „nur“ ist zu streichen, bitte).

Überhaupt mag ich es, Onkel Torberg, wenn Sie von Herren erzählen — denn die frisierten Troglodyten, die's heut' zu was bringen, sind kein Ersatz für einen — sagen wir — Egon Friedeil, der noch im erzwungenen Sterben achtgab, daß niemand anderer dadurch zu Schaden käme. Diese Herren konnten sich's denn auch leisten, Käuze und Originale zu sein: Witz und Vornehmheit schlössen einander nicht aus, und mit der Größe wuchs die Selbstironie (oder umgekehrt), Sie bringen der Beispiele viele, hinauf bis zu Einstein, und sind vielleicht selber das beste, spätestens seit diesem Buch. Und, nebenbei bemerkt: trotz Ihrer wiederholten Versicherung, daß Anekdoten stets besser erzählt als geschrieben werden, schreiben Sie, lieber Onkel, die Ihren so gut wie erzählt. Sie hören: ich schmeichle. Und geniere mich nicht einmal. Es ist auch eine Art, zu danken dafür, daß ich eines wie das andere genießen durfte.

Apropos „genießen“: Aber beim Demel gehe ich nicht mit Ihnen konform und daher nicht mit Ihnen hinein, und auch auf den Tafelspitz kann ich verzichten im Sacher, ich halte mich — und das ist bei Gott sehr viel mehr als bloß Ausdruck des Generationenkonflikts! —, ich halte mich ans Beinfleisch beim Mar-hold und an das Budweiser dort. Ansonsten freilich, ansonsten ... Und jetzt fange ich gleich zu heulen an, zumal ich etwelche Leser schon ausrufen höre: „Wie ulkig!“ Denn ulkig war, was Sie da erinnern und äußern, nun ganz gewiß nicht gewesen; und nicht einmal witzig allein, denn woher denn sonst als aus Not und Angst kommt der Witz? Was damals dem Leben Farbe und Glanz und ein faszinierendes Zwielicht verlieh — nämlich borgte (um es in schlechtem Deutsch, doch gut österreichisch zu sagen) —, das waren jene Existenzen, die „nur an der Außenseite einer morbiden Gesellschaft gedeihen“: ein Arnold Schönberg nicht weniger als ein x-beliebiger Schnorrer. Doch grad diese Außenseite besaß, was man Stil nennt — Ordnung im Weltbild und Haltung im Leben —, und sie produzierte ihn, diesen Stil, im Witz.

In einem Witz, versteht sich, der vom Kalauer eben so weit entfernt war wie Mährisch-Ostrau von Att-nang-Puchheim, weil er aus tausen-den Jahren Erfahrung schöpfte — Erfahrung im Wortgebrauch ist gemeint! Die Tante Jolesch hat davon ebenso profitiert wie Karl Kraus oder wie der — vom Qualtinger auf Schallplatte wiedererweckte — „Wortsteller“ Anton Kuh. Sie alle waren — horribile dictu! — gebildet. Und Sie, Onkel Torberg, vermerken das Faktum, daß selbst den „Käuzen und Kaffeehauspflanzen (und noch den nutzlosesten Nichtstuern unter ihnen) ein gewaltiger Bestand von Bildungsgut und Kenntnisreichtum zu eigen war, den sie auch bei ihrer Umgebung als selbstverständlich voraussetzten“. Man blödelte noch auf lateinisch und griechisch — die Enkel können das nicht einmal mehr in der Muttersprache! Können das nicht, weil einzig das Brett, das sie vor dem Kopfe tragen, ihnen die Welt bedeutet.

Das Spiel ist aus dieser Welt entschwunden, ist weggetilgt zugunsten des mühsam Bemühten, das nichts gebiert als wieder nur mühsam Bemühtes: Provinz zur Potenz: die Welt als Wille und ohne Vorstellung — aber was sage ich Ihnen! Höchstens das eine nur noch:

Sie haben ein „Buch der Wehmut“ geschrieben für sich, und Sie haben's geschrieben viel mehr noch für mich. Ach, Onkel Torberg, Sie ahnen ja nicht, was Sie mir eingebrockt haben mit Ihren Erinnerungen, da diese auch meine sein könnten und es nicht sind und auch niemals sein werden! Und also bleibe ich, weil mir nichts anderes bleibt, nicht Ihr, lieber Onkel, sondern nur der

DIE TANTE JOLESCH ODER DER UNTERGANG DES ABENDLANDES IN ANEKDOTEN. Von Friedrich Torb er g. Langen-Mül-ler-Verlag, München und Wien 1975. 336 Seiten.

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