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„Nachher frein mir uns alloan“

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Nahe der Tiroler Landeshauptstadt Innsbruck steht auf einem sonnigen Hügel am Fuß der Nordkette eine Burgruine. Vor nahezu tausend Jahren lebten dort die „Ritter von Thaur“. Die Geschichte des Thaurer Schlößls, wie die Einheimischen sagen, verliert sich in unerforschlichen Zeiten. Berühmte Tiroler Landesfürsten haben im Mittelalter das romantisch gelegene Schloß bewohnt: Margarete Maultasch, Siegmund der Münzreiche und Kaiser Maximilian I. Die Legende erzählt, daß in diesem Schloß der heilige Romedius als Sproß der Thaurer Grafen geboren wurde. Auf ihn geht die Erbauung des unterhalb der Burgruine befindlichen „Romedilcirchleins“ zurück. Und diese Schloßkirche ist heute noch der Mittelpunkt eines alten Brauches der Bewohner des Dorfes Thaur.

Thaur ist kein Kurort und kein Wintersportzentrum, aber es darf ein viel selteneres Prädikat in Anspruch nehmen: Thaur ist das Dori der Weihnachtskrippen. Der Brauch, das Weihnachtsgeschehen mit naturgetreuen Figuren aus Holz, Ton, Wachs oder Papier anschaulich darzustellen, ist im 16. Jahrhundert entstanden und in Thaur befinden sich die ältesten noch erhaltenen Krippenfiguren aus Tirol.

Heute noch werden dort in der Winterszeit über fünfzig Weihnachtskrippen aufgestellt — in Kirchen, Bauernhäusern und Wohnungen. Die Krippensaison beginnt mit dem St.-Nikolaus-Tag und endet eigentlich erst zu Ostern. Die „Hauptsaison“ allerdings dauert vom 26. Dezember his zum 15. Jänner (Fest des hl. Romedius). In diesen knappen drei Wochen können die Weihnachtskrippen in den Häusern von jedermann besichtigt werden.

Nach dem St.-Nikolaus-Tag räumen die Thaurer die Stuben aus, um für den „Krippeleberg“ Platz zu machen. Der Aufbau einer großen Weihnachtskrippe ist eine mühevolle und zeitraubende Arbeit und die ganze Familie findet dabei Beschäftigung. Es gibt Krippen mit nur wenigen Figuren, aber auch solche mit tausenden. Figuren, die nur einige Zentimeter hoch, und solche, die nahezu lebensgroß sind. Dargestellt wird nicht nur das Ereignis von Bethlehem, sondern auch das bäuerliche Leben auf den Tiroler Bergen und im Dorf.

Jede Tiroler Weihnachtskrippe besteht aus drei Elementen: den Figuren, dem Berg und dem Hintergrund. Beim Berg unterscheidet man wiederum drei Arten: den Wipptaler (aus Rinden lose zusammengesetzt), den Zirler und den Thaurer Krippenberg. Heute ist nur noch der letztere anzutreffen. Es ist der fest zusammengefügte Berg, bestehend aus zwei bis vier Teilen, hergestėllt aus Buchenstöcken und Rinden. Er wird meist mit gefärbtem Sagemehl, dem sogenannten „Pudel“, bestreut.

Manche Figuren haben bewegliche Gliedmaßen und sind mit Tiroler Trachten bekleidet. In den letzten 250 Jahren sind aus Thaur mehrere Dutzend Krippenkünstler — Schnitzer, Krippenbergbauer und Hintergrundmaler — hervorgegangen. Am bekanntesten ist das Geschlecht der Giner. Johann Giner der Ältere (1756—1833) hat als Figurenschnit-

zer großen Einfluß auf die gesamte Tiroler Krippenkunst ausgeübt Der lebendige Aiusdrudc und der farbige Glanz seiner teils rokokomäßigen, teils klassizistischen Figuren fanden viel Bewunderung. Der Giner Erbhof ist noch heute im Besitz der Familie.

Ursprünglich wurden Weihnachtskrippen nur in Kirchen und Klöstern aufgestellt. Bereits um 1608 stand eine Krippe in der Jesuitenkirche in Innsbruck. Zur Zeit der Aufklärung jedoch wurden die Krippen aus den Kirchen verbannt und hielten deshalb Einzug in die Bürger- und Bauernhäuser. Waren die Figuren der ersten Weihnachtskrippen gekleidet so findet man seit dem 18. Jahrhundert geschnitzte Figuren.

Bis zum 19. Jahrhundert wurde das heilige Geschehen in die Tiroler Landschaft verlegt. Es gab damals nur heimatliche Krippen. 1852 unternahm der seinerzeit als Einsiedler bei Thaur lebende Felix Zimmerling eine Palästinareise und begann hernach orientalische Krippenberge zu bauen.

Die Gestalter der ersten Krippe in der Thaurer Schloßkirche waren ebenfalls Eremiten, nämlich Bruder Meinrad und Josaphat Sargant. Del Krippenberg stammt von dem bereits erwähnten Felix Zimmerling, der um 1840 die heute noch bestehende Einsiedelei errichtete. Den Hintergrund der Schloßkirche gestaltete der akademische Maler Franz Pemlochner (1847—1895), dessen

Hintergrundmalerei in ganz Tirol Schule machte. Auch sein Vater, Franz Pemlochner der Älteste, befaßte sich mit der Krippenbaukunst. Von ihm erzählt man, daß er jede freie Stunde seines Lebens zum Schnitzen benützt habe. Von der gleichen Leidenschaft besessen war Johann Laimgruber (1823—1875), genannt „Mundi“, bei dem die Thaurer so viele Figuren bestellten, daß er an Überarbeitung gestorben sein soll. Aber auch heute noch wird in Thaur die Krippens chnitzerei gepflegt. Einer der bekanntesten Thaurer Schnitzer der Gegenwart ist Romed Speckbacher, der dieses Kunsthandwerk von seinem Vater übernommen hat. Seine Arbeiten — Krippenfiguren und Fastnachtsmasken — finden Abnehmer in der ganzen Welt.

Eine der schönsten Tiroler Krippen besitzt der „Denggen-Medd“, wie Romed Farbmaeher im Dorf genannt wird. Die Landschaft dieser Krippe ist nach der Umgebung von Thaur gestaltet. Die Schloßruine, das alte Tor am Kreuzweg und das Romedd- kdrchlein sind gut zu erkennen. Der Hintergrund zeigt die Nordkette mit der „Kaisersäule“, der Thaurer Alm und der Rumerspitze. Tiroler Bauern und Hirten pilgern zur heiligen Familie und vom Schloß herunter reitet Romedius auf dem Bären. Unter dem Krippenvolk stehen drei eifrig diskutierende Männer, die jedem Thaurer ein Begriff sind: Franz Pemlochner, Ferdinand Stabinger und Johann Farbmaeher. Alle drei waren einst maßgebend an der Herstellung der Krippe beteiligt und haben’ sich selbst auf originelle Weise darin verewigt. Johann Farbmaeher (1866—1943) hat den Krippenberg für die Thaurer Pfarrkirche gebaut und war auch Pfleger der Schloßkrippe. Sein Sohn, Romed, hat vom Vater nicht nur das Handwerk übernom-

men, sondern folgte ihm auch im Amt des Krippenpflegers nach. Die Krippe in der Schloßkirche bleibt auch nach dem 15. Jänner stehen. Nach dem ersten Fastensonntag wird dort die Fastenkrippe aufgestellt, die die Ereignisse vom Einzug in Jerusalem bis zum Pfingstfest zeigt. Dauert die Fastenzeit lang, so stellt man vorher noch die „Hochzeit zu Kana“ auf.

Die älteste in Tirol erhalten gebliebene Hauskrippe besitzt der Maxembauer. Die geschnitzten Figuren stammen aus dem 17. Jahrhundert. Eine Sehenswürdigkeit ist auch eine Barockkrippe aus dem 18. Jahrhundert, die sich in einem Privathaus befindet. Sie wurde einst in einem Damenstift gemacht und die Wachsfiguren tragen original Tiroler Trachtenkleidung. Beim „Schützenwirt“ kann man während der Weihnachtszeit gleich vier Krippen bestaunen: zwei geschnitzte, eine mit original gemalten Papierfiguren und eine mit gekleideten Figuren. Die älteste Papier krippe in Thaur ist 150 Jahre alt und die größte Hauskrippe an die fünf Meter lang.

Thaur ist eine grüne Insel zwischen Innsbruck und Solbad Hall. Es ist ein echtes Bauerndorf, in dem die Tradition nicht ängstlich bewahrt und gehegt werden muß, sondern in den Herzen der Bewohner lebt. Eine Gehstunde von der Großstadt entfernt, werden dort die Feste des Jahres noch in ihrer ursprünglichen Bedeutung und Mystik begangen. Ob das Turmblasen in der Heiligen Nacht, die Fasnacht mit dem Huttierlaufen, die für Tirol heute einzig dastehende Palmprozession am Palm-

sonntag, die originelle Fronleichnamsprozession mit „Partisaner“ und Schützen oder das Gestalten und Aufstellen der Weihnachtskrippen — alles geschieht mit einer traditionedlen Selbstverständlichkeit, wie sie nur mehr in wenigen Gegenden des Alpenraumes zu finden ist.

Thaur liegt auf uraltem historischen Boden. Die Besiedelung datiert aus der Bronzezeit. In den Urkunden wird 827 zum erstenmal ein Klosterbesitz „in Taurane“ erwähnt. Schon um das Jahr 1000 war Thaur, dank der Salzquellen, ein blühender Ort Seit jeher hatte die bäuerliche Bevölkerung NebenerwerbsmögLichkei- ten in den Salzbergwerken und in der Neuzeit fanden Bauernsöhne

Arbeit bei der Eisenbahn. So bestand keine Notwendigkeit, Industrie anzusiedeln oder den Fremdenverkehr zu fördern. Die Zahl der stattlichen Bauernhöfe hat sich in den letzten 150 Jahren auch kaum verringert.

Dies alles war ein guter Nährboden für echtes Brauchtum und so kommt es, daß die Überlieferung dort auch heute noch eine lebensnahe Funktion hat. Die Thaurer Bürger und Bauern stellen ihre Weihnachtskrippen nicht auf, um damit Bewunderer oder Fremde anzulocken, sondern weil es eben so Brauch ist und sie daran Freude haben.

„Kimmt wer, isch’s recht, kimml niemand, nachher frei’n mir uns al- loan“, meinte ein alter Thaurer. So lange diese Einstellung vorherrscht, wird Thaur den verderblichen Anfechtungen unserer Zeit widerstehen und das liebenswerte Krippendorf bleiben.

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