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Ode an einen toten Baum

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Es geht ihm ans Leben. Mit zitternden Blättern fühlt der Baum die Zähne der Motorsäge an seinem Stamm, er bebt, und mit einem brechenden Aufschrei sinkt er zur Erde nieder. Ringsum die Freunde stehen betroffen, stumm. Ängstlich flattern Vögel auf, ihr Haus ist zerstört, ein Riese ist gefällt, ein Baum gestorben, ums

Leben gebracht. Die Holzfäller zeichnen einen letzten Gruß in sein Fell, loben die Geometrie ihres Werks und wollen den Vorwurf der Umstehenden nicht hören. Das hier ist ihr Tagewerk, das sie mit Kraft und Genauigkeit erfüllen. Keine Henkerarbeit, ganz gewiß.

Aber wer schon mit einem Baum, vor seinem Fenster, gesprochen hat, dem schneidet es ins Herz. Hat er ihn nicht mit Bändern geschmückt, den Freund vor dem Fenster, wenn ein Festtag war, hat er nicht pochende Liebe von ihm erfahren, wenn er den nahen Zweig mit den Händen heranzog? Hat er nicht, wohl wissend, daß ein langlebiges Wesen nur ein langsames Wort versteht, geduldig mit ihm Gedanken ausgetauscht, übers Wetter geredet, ihn in Winterkälte umfangen, Jahr für Jahr das Wunder erlebt, wie aus der harten Rinde überzarte Blüten brachen, gleichsam aus der Eischale gekrochen, sich räkelten, aufpluderten, mit hellem Schein die Sonnenwiederkehr verkündeten, wie die Asthöhlen sich den zwitschernden Vögeln zum Nestbau empfahlen?

Manchmal sang ein Mädchen im Garten ein Lied, und der Baum breitete ihr seine Zweige entgegen. Und voll Entsetzen rauschte er, wenn die Sense des Landmanns die Gräser unter ihm köpfte. Wäre er nicht für sie sprachlos gewesen, der Baum hätte dem Mädchen unten zugerufen, den Lichtnelken und dem plumpen

Löwenzahn doch ihr Leben zu lassen, statt sie abzupflücken und daheim in einem gläsernen Sarg voll Wasser noch ein paar Tage im Koma zu halten. Gewiß, gewiß, der Lauf der Natur; die Erde wurde dem Menschen geschenkt, damit er sie nütze. Und der Trost: Werden sich auch ihres Hauptes beraubt, die Blumen, ihre Wurzeln treiben neue Sterne. Die Wurzeln des Baumes freilich sterben mit ihm, da gibt es auch nicht die Illusion der Seelenwanderung — oder doch? Unser Baum vor dem Fenster glaubt an sie, und was uns betrifft, so würden wir gern daran glauben, weil es tröstlich wäre, immer wieder neu zu werden.

Wie wird es sein, wenn wir einmal gefällt sind, werden wir gleich vor der Großen Verantwortung stehen, oder still und ahnungslos ruhen bis zum Jüngsten Tag? Gott hat dem Menschen die Erde gegeben, daß er sie sich Untertan mache, und was der Mensch daraus gemacht hat, das sehen wir. Ist nun das, was wir sehen, die wahre Welt? Die Ameise lebt in einem ganz anderen Ambiente, der Jaguar hat seine scharfe Welt und der Fisch einen eigenen Kosmos. Ist uns gegeben worden, die wirkliche, oder nur: die menschliche Welt zu sehen? Wie weit reicht unser Verstand, der schon vor dem Begriff der Ewigkeit erschrocken zurückweicht? Und wie sieht uns Mensch so ein Riese von Baum? Da er lebt und treibt, hat er Leben, das er im Niederbrechen verliert. Aber seine unsterbliche Wesenheit kann doch nicht verblassen? Muß irgendwo bewahrt bleiben. Meint der Mensch.

Wie wenig wir doch wissen. Wie sehr entgeht uns, was die Wälder uns zuraunen, jeder Baum uns zu sagen hat. Es bleibt nichts, als hinzuhorchen auf das unverständliche Gespräch der sich zu-einanderneigenden Wipfel, und daran zu glauben, daß über ihnen Ruhe sei, wohl wissend, daß auch dort die Dämonen hausen, wie sie allüberall seit jeher gehaust haben.

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