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Opfer für Deutsche

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Man sage, wenn man, wie in dieser Uberschrift, etwas vom Fremdenverkehr hört, der bekanntlich unser Budget ausbalanciert, nicht gleich: „A was, Charakter!“, sondern, man lese ruhig weiter wie folgt:

Als die La Motte-Valois aus der Salpetriere, einer Strafanstalt, durchbrannte, in die sie gesteckt worden war, weil sie sich des berühmten „Halsbandes der Königin“ bemächtigt und es zerstük-kelt und verkauft hatte, schloß sie sich einer Gruppe von englischen Sightseers an, mischte sich unter sie und gelangte auf diese Weise unerkannt ins Freie. Diese Sightseers waren — allerdings bloß sozusagen — die ersten Autobustouristen, die sich nach Paris begeben hatten, um dort die Strafanstalten, vor allem die berühmte „Grande Force“ zu besichtigen, von der sie noch gar nicht wußten, daß die inzwischen noch berühmter gewordene La Motte soeben aus ihr ausgerissen war. Wichtiger ist jedenfalls, daß sie die erste Gruppe von Reisenden waren, während damals noch die sogenannten „Kavalierstouren“ der Edelleute, unter anderem auch die „Italiänische Reise“ des eben erst geadelten Goethe, einzeln unternommen wurden. Auch Grillparzer war Reisebegleiter eines jungen Grafen Wurmbrand gewesen, bei welcher Gelegenheit er sich, gewissen Aussagen der Familie zufolge, nicht eben angenehm aufgeführt haben soll.

Doch lernt man eigentlich erst auf Reisen die Leute wirklich kennen, und Grillparzer mag zwar ein großer Seher, jedoch — oder eben deshalb — kein bequemer Mensch gewesen sein. Kurzum, die Sightseers in der Salpetriere waren, wenn schon nicht die erste, so doch eine der ersten Reisegesellschaften, von denen wir wissen; und seitdem ist das Reisen in Gruppen, vielleicht aus subkutaner Furcht vor dem unbekannten Ausland, in Mode ge-komen. Leider, leider! Denn es ist schrecklich, wenn man heutzutage zwar nicht gleich einem Autobus aus Düsseldorf, aber doch zumindest einem Pkw aus der genannten Stadt und gleich darauf einem zweiten Pkw — um die scheußliche Abkürzung zu wiederholen — aus der gleichen Stadt begegnet. Aber unmittelbar darauf folgt ein dritter Wagen aus Düsseldorf. Denn heutzutage kann niemand mehr, und am wenigsten kann das schlichte Volk deutscher Touristen alleine reisen. Doch sind die Touristen nun mal so. Wie sagte doch Kaiser Franz Joseph: „Ich hab es nicht gewollt!“ Nun, und ich auch nicht. Aber daran ist nichts zu ändern. Und das bringt unser Budget wieder ins Gleichgewicht ...

Die Sache mit der Salpetriere hatte sich — ich glaube — im Jahre 1787 ereignet, und im Jänner 1939 reiste auch ich selber mit einem deutschen Schiff nach Westindien, um dem allgemeinen Beglücktsein, das durch Hitlers Besetzung Österreichs bei uns ausgebrochen war, auf ein paar Monate zu entgehen. Aber wie staunte ich, als ich unser Schiff auch voller deutscher Millionäre fand, die dem Glücke der Machtergreifung Hitlers in Deutschland gleichfalls durch fortwährendes Herumreisen entgehen wollten. Sie buchten die eine Reise unmittelbar im Anschluß an die andere. Alles in allem müssen Milliarden von Reichsmark mit mir auf dem Schiffe gewesen sein; und sie wollten damals alles, nur nicht in Deutschland sein. Denn es hilft nichts: Geld, wirkliches Geld, verleiht Leuten gegenüber, die kein wirkliches Geld besitzen, eine Art echter Distinktion, und das deutsche Wesen, an dem, wieder einmal, die Welt nicht genesen sollte, war diesen Leuten, die sich so bescheiden gaben wie wie nur möglich, schon seit 1933 gräßlich, obwohl sie selber Deutsche waren.

Nichts, übrigens, gegen die Deutschen! Aber sie sind nun einmal diejenigen, welche die reisenden Engländer von einst abgelöst haben, und die meisten von ihnen reisen in Autobussen. Die Engländer, die noch reisen, übrigens auch; und auch die Amerikaner reisen schon in Autobussen; und sie alle dienen dazu, unser Budget wieder ins Gleichgewicht zu bringen; und das ist der Fremdenverkehr; und wehe, wenn man etwas dagegen sagt!

Denn wenn es im Winter nicht schneit, ist es eine Gemeinheit, und wenn es im Sommer regnet, ist es eine Gemeinheit, und wenn wir irgendwo das Trinkwasser so weit haben verkommen lassen, daß man vom Paratyphus munkelt, so ist es auch eine Gemeinheit.

Ich möchte nicht sagen, daß der Fremdenverkehr unserem Charakter nicht gutgetan hätte. Aber eigentlich stimmt es dennoch nachdenklich, wenn ein Land, das einst die Welt beherrscht hat, nun vor allem von Fremden lebt, vor denen man schuhplattelt. Dabei ist das Schuhplatteln eigentlich gar nicht österreichisch, sondern bayrisch. Nichts gegen Bayern und das Schuhplatteln, aber ich sollte einmal in Hamburg etwas vorlesen, doch waren nur zweihundert Leute dazu erschienen, denn es hieß, an diesem Abend geben die Ausseer Schuhplattler irgendwo anders in Hamburg einen Abend. Bei Torberg, hieß es, seien ein andres Mal überhaupt nur 7 (sieben) Leute erschienen. Ich glaube nicht, daß das wahr ist. Wahrscheinlich sagte man mir's nur zu meinem Trost. Denn Torberg ist weitaus „präsenter“ als ich. Aber auch in Hamburg, wenngleich bloß im Rahmen einer „Österreichwoche“, flunkerte man im Sinne des Fremdenverkehrs. Und unser Wetterbericht drückt sich, gleichfalls zugunsten des Fremdenverkehrs, so zweideutig aus wie die delphische Sybille. Und darüber, was die Gemeinderäte, insbesondere im Salzkammergut, zugunsten des Fremdenverkehrs alles tun, darüber wollen wir lieber gar nicht reden.

Wenn wir aber ganz aufrichtig sind, so brauchen wir uns aus alledem nichts zu machen. In unserem Reiche ging einst die Sonne nicht unter, ja schließlich haben wir sogar Napoleon besiegt, und jetzt haben wir immer noch die Spanische Reitschule, die Sängerknaben und die unsterblichen Weisen von Lehar und Benatzky. Da braucht man wirklich nicht zu schroff und abweisend gegen die Fremden zu sein. Schließlich sind das ja auch Menschen, die sich während vieler Monate harter Arbeit auf die wenigen Wochen der Erholung in unserem Lande freuen. Und endlich waren doch auch wir es, die den guten Leuten unsern Hitler beschert haben. Ist's da ungerecht, wenn wir den Deutschen gegenüber — denn genau genommen ist auch die deutsche Prosperität, das Wirtschaftswunder oder wie immer man's nennen will, die Folge von Hitlers Werk — ist's ungerecht, wenn wir da den Deutschen auch ein paar kleine charakterliche Opfer zu bringen haben?

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