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Peter Handke oder Die Aura des Bleistifts

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„Das Individuum ist Schauplatz eines ständigen Umfüllprozesses, eines Umfüllens aus dem Gefäß, das die träge, blasse und monochrome Flüssigkeit der zukünftigen Zeit enthält, in das Gefäß, das die Flüssigkeit der vergangenen Zeit enthält, bewegt und vielfarbig durch die Erscheinungen ihrer Stunden."

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„Das Individuum ist Schauplatz eines ständigen Umfüllprozesses, eines Umfüllens aus dem Gefäß, das die träge, blasse und monochrome Flüssigkeit der zukünftigen Zeit enthält, in das Gefäß, das die Flüssigkeit der vergangenen Zeit enthält, bewegt und vielfarbig durch die Erscheinungen ihrer Stunden."

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Dieser Satz aus Becketts Proust-Essay lockt sogleich einen anderen hervor: „Es gibt kein Entrinnen vor dem Gestern, weil das Gestern uns deformiert hat oder durch uns deformiert worden ist."

Handkes Stücke und Texte von Gestern wiederzulesen, heißt auch, sich den Deformationen zu stellen, die sie angerichtet haben und denen sie, auch durch den Autor selbst, ausgesetzt sind. Wie kein anderer Schriftsteller der Gegenwart hat Handke einem wie mir jene Triftigkeit des Lesens vermittelt, die mir im „Wunschlosen Unglück" aus der Negation der Leseerfahrung der Mutter einleuchtete: „Freilich las sie die Bücher nur als Geschichten aus der Vergangenheit, niemals als Zukunftsträume, sie fand darin alles Versäumte, das sie nie mehr nachholen würde."

Handke zu lesen war wie eine Gewähr, nichts versäumen zu können: seine frühen Texte waren und sind codiert mit all den Mythen, die unsere Gegenwart ausmachten und zu denen sehr schnell auch Handke gehörte -dieselbe Musik, auch die Unverfrorenheit, dem Weihrauch der Schullektüre abzuschwören. (Sein „Versuch über die Jukebox" ist die mitunter zu weihevolle Evokation dieser bewegten und vielfarbigen vergangenen Zeit.)

Der unverblümte Angriff Handkes auf die Betulichkeit der vorherrschenden Schreibweisen und der kulturellen Institutionen, die einem, der ohne Bücher aufwuchs, nur als Ausschlußmanöver erschien, wirkt auch beim Wiederlesen von „Publikumsbeschimpfung" oder „Das Mündel will Vormund sein" unverbraucht und so luzid, daß es verlockend ist, diese Texte gegen die Beliebigkeit des bislang letzten Stücks „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten" oder die zwängliche „Apotheose der Kunst" in „Über die Dörfer" auszuspielen.

Peter Handkes Programm, seine Schreibregeln immer wieder auszusetzen und Neues zu versuchen, ist des öfteren auch mißglückt - dem Respekt vor dem Risiko tut dies keinen Abbruch. Dieser selbstverordnete Innovationszwang kann jenen „Umfüllprozeß" nicht verdecken, der sich an der geradezu obsessiven Wiederholung von Mikrobeobachtun-gen, von (Selbst-) Zitaten und Motiven des Frühwerks beobachten läßt. Und für manches Verstiegene, zu steil Stilisierte entschädigt das darauffolgende Werk.

„Das Spiel vom Fragen" lebt - derart in die Werk-Reihe gestellt - auch davon, den Heidegger-Ton der Nova vergessen zu machen mit Wittgensteins Konzept des Sprachspiels, das anhand des Fragens als neue Lebensform vorgeführt wird. Die ästhetische Gelassenheit, mit der die eigenen

Ordnungs-Mythen (Kind/Natur/Ferne) ihrer Fragwürdigkeit ausgesetzt werden, erscheint als eine Form der Selbstironie, mit der Handke-Leser nicht gerade verwöhnt werden. Der herrische Gestus des Verwerfens (Musil, Beckett, Joyce) und Auftrumpfens, die Klassiker-Pose müssen in diesem Stück nicht mehr herhalten, um die filigrane Behauptung eines eigenen Schreib-Raums hysterisch zu schützen.

Das Filigrane, verschwistert mit der präzisen Trauer, behauptet sich auch so, am schönsten vielleicht im zärtlichen Abschied des Spielverderbers von der Utopie, der zugleich diesen Abschied dementieren will: „War denn die Zukunft nicht einmal ein Kontinent? Und die Frage der Fragen, jedenfalls zu meiner Zeit: ,Was sollen wir tun?' Und warum ist dieser Kontinent heutzutage geschrumpft zu deiner wie meiner Inselfrage: ,Was soll ich, ich allein, tun?' Wo ist unsere Gemeinsamkeit mit all den kreuz und quer Gehenden hinverschwunden?"

Auch wenn das Problem des Fragens am Ende durch den herbeizitierten Wittgenstein zu schnell verschwindet, das Stück behält seinen Reiz als fort- und umgeschriebene Version des „Kaspar".

In einer inversen Anordnung des sprachlichen Konditionierungspro-gramms von Handkes „Kaspar" geht es im „Spiel vom Fragen" darum, die Frageprogramme beziehungsweise programmatischen Fragen abzubauen. Zwar konstatieren die Einsager in „Kaspar": „Ein Satz, dem noch eine Frage folgen muß, ist ungemütlich: bei einem solchen Satz kannst du dich nicht zuhause fühlen." Doch die Phase: „Kann Kaspar sich Fragen stellen?" wird einsagerkonform im Sinne der herrschenden Gemütlichkeit absolviert.

So wie sich in Handkes Frühwerk die schnellen, maschinenartigen Programmierungen der Sozialtechnologie nicht auf Satzmodelle beschränken, ist der Widerruf im „Spiel vom Fragen" nicht auf typische Frageformen und -sätze fixiert. Die se-miotischen Verästelungen des falschen Fragens beziehungsweise der Fragestummheit werden vom Mauerschauer bis in die „Frage-Intonierungen", den „Fragetonfall des berüchtigten Herrenvolkes" und die zugehörige Körpersprache verfolgt. Stigmatisiert von den falschen Frage-Zeichen muten diese Fremden mit ihren „gleichmäßigen Stimmen" dem Ein-heimi sehen gleichwohl wie ein Versprechen an, denn erkennt die Seinigen:

„Die Einheimischen hier sind entweder lauthals, oder sie tuscheln. Wann ist dieses Tuscheln ins Land gekommen?" Das Randy Newman-Zitat des als Flüchtling vorgestellten Spielverderbers: „you can run but you cannot hide" (aus dem Song „Bad news from home") erhält so einen nur noch schlimmeren Hintersinn.

Umso fragwürdiger erscheint mir die Auratisierung, die mit der Faksimile-Ausgabe der Handschriften der erzählerischen „Versuche" betrieben wird. Der demonstrative Gestus des Kostbaren, hieran die abgepackte Materialität des handschriftlichen Buchstaben delegiert, ruft all die irritierenden Handke-Sätze auf, die immerauch zeigen wollen, wie schön sie sind, und dies gleich mit der Behauptung verbinden, daß das Schöne ist.

Dieses Kunsthandwerkliche (auch mit den zugehörigen Bilder-Folgen in der Manier Hugo von Hofmannsthals im „Versuch über die Müdigkeit") zieht jenes ungenaue, restaurative Pathos nach sich, das Handkes vermischte Schriften (in dem Band „Langsam im Schatten")5 mitunter verunstaltet. Das „Ich liebe ihn", mit der Handke seine Grillparzerpreis-Rede beschließt, oder die gespreizte Umständlichkeit, mit der er John Bergers politisch pointiertes frühes Erzähl werk zu getragenen Wir-Erzäh-lungen stilisiert, läßt einen jene präzisen Text-Beschreibungen vermissen, die Handke seinen Kritikern zu Recht abverlangt und die er selbst oft genug verfaßt hat.

Deshalb, meine ich, wären Handkes Texte (nicht nur die Geburtstagsgabe, die sein Verlag jetzt vorgelegt hat), mit einer Liebeserklärung nicht abzufertigen. Die Relektüre seines weitverzweigten Werks hat in anderer Form die Dringlichkeit erneuert, die mein früheres, erstes Lesen so widerstandslos gemacht hat. Die Fähigkeit, dem Geschriebenen auch Widerstand zu leisten, ist nicht zuletzt seinen Texten geschuldet, die noch im oft aufreizend Widersetzlichen eine Schule des Lesens geblieben sind.

Dr. Karl Wagner ist Dozent am Institut für Germanistik an der Universität Wien.

In diesem Herbst sind erschienen: LANGSAM IM SCHATTEN. Von Peter Handke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1992. Ca. 250 Seiten, öS 265,20. PETER HANDKE. THEATERSTÜCKE IN EINEM BAND. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ Main 1992. Ca. 496 Seiten, öS 499,80.

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