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Stoß in die Buchstabenwelt

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Zur großen Bildungswelle, die ein Land um das andere erfaßt, will nun auch das Fernsehen seinen Beitrag leisten. Hierzulande hat der ORF seine Bereitschaft kundgetan, in jeder Weise, ob Kinder- oder Erwachsenenbildung, mitzuwirken.

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Zur großen Bildungswelle, die ein Land um das andere erfaßt, will nun auch das Fernsehen seinen Beitrag leisten. Hierzulande hat der ORF seine Bereitschaft kundgetan, in jeder Weise, ob Kinder- oder Erwachsenenbildung, mitzuwirken.

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Das deutsche Fernsehen, das in gewisser Weise als Vorbild und Versuchsanstalt für die Nachbarländer gelten kann, bringt seit einigen Monaten mit seiner Sendereihe „Sesamstraße“ das Alphabet in jedes Kinderzimmer. (Bayern, Baden-Württemberg und das Saarland strahlen diese Sendung nicht aus.) Ob sie nun gut oder schlecht ist, haben bereits viele Pädagogen untersucht. Die wesentlich wichtigere Frage aber lautet: Ist es gut oder schlecht, Vierjährige in die Welt der Buchstaben zu stoßen, sei es mit oder ohne „Sesamstraße“?

In welchem Alter soll sich die von Geist wie von Dummheit so übervolle Welt der Buchstaben vor unseren einzigen Analphabeten, den Kindern, öffnen? Dabei erhebt sich als erstes die Frage, hat die Kenntnis der Schrift nur Vorteile? — Man ist sich heute klar darüber, daß der unbestritten ungeheure Bereicherung durch die Alphabetisierung auch Verarmungen gegenüberstehen.

Die erste Verarmung: Je intensiver der Umgang mit dem Buchstaben wird, desto schlechter pflegt das Gedächtnis zu werden. Es ist erwiesen, daß Analphabeten im Durchschnitt ein wesentlich besseres Gedächtnis aufweisen. Allerdings leitet sich der historische Ursprung der Schrift von den alten Babyloniern und Ägyptern her, deren Priester bei der Eintreibung der Opfergaben eine Gedächtnisstütze brauchten, damit kein Hammel ihrer habgierigen Aufmerksamkeit entging. Doch wie die Schriftzeichen das natürliche Erinnerungsvermögen in den Schatten stellen, entlasten sie es einerseits, schläfern es ein, degradieren es.

Die zweite Verarmung: Der Umgang mit Buchstaben begünstigt das abstrakte Denken, was zwar ein großer Vorteil ist, für den jedoch ein Preis bezahlt werden muß. Die Abstraktion verursacht nämlich eine Einbuße an Naivität, an Anschaulichkeit und Direktheit. Das negative Ergebnis ist der legendäre Bücherwurm, dem sich schließlich das pralle Leben versagt, und der nur noch aus zweiter Hand zu leben weiß.

Mit der Erlernung der Schrift stellt sich aber noch ein weiteres Problem, das gerade in unserer gehetzten Zeit eine Frage der Lebensqualität für unsere Kinder darstellt. Selbst wenn das Kind lesen und schreiben spielend erlernt, beginnt mit dem Lernen die Zielstrebigkeit, der Abschied von der Sphäre der unmittelbaren Erfahrung und des zweckfreien Spiels, mit einem Wort, auch bei einer spielerischen Anleitung in einem systematischen Kurs („Sesamstraße“ ist für zwei Jahre vorgeplant) kommt das Kind unter den viel verschrieenen Leistungsdruck. Annemarie Sänger, die Leiterin eines pädagogischen Instituts in Heidelberg sagt: „Das Frühlesenlernen überführt das Spielalter vorzeitig in das anschließende Lernalter. Eine ganz entscheidend wichtige Lebensstufe des Kindes wird verbogen. Die Folgen zeigen sich später: Einsamkeit, Infantilismus, Lebensangst.“

Wichtiger als das frühe Training im mechanischen Lesen wäre, die Denk- und Erkenntnisfähigkeit im allgemeinen zu fördern. Das Kleinkind will lernen — aber durch Probieren, eigenständiges Tätigsein, durch eigene Erfahrung; es will unmittelbar an die Welt herankommen und nicht durch Abstraktion oder Dressur.

So ergibt sich die Frage, wann das Kind nun beginnen soll, die ersten Schritte zum Erwachsenen zu gehen? Bisher vollzog sich der Ubergang mit wenigen Ausnahmen im Alter von sechs Jahren. Ein späterer Zeitpunkt wird bei einem normal entwickelten Kind nicht vorgeschlagen.

Progressive Pädagogen plädieren nun seit einiger Zeit dafür, das Lesealter auf vier Jahre zu senken. Die theoretische Propagierung des Frühlesens kommt aus den Vereinigten Staaten. Ende der sechziger Jahre wurde sie dann von deutschen Pädagogen aufgegriffen, die sich auf folgende Hypothesen stützen:

Die Fähigkeit des Lesenlemens hat ihren Höhepunkt bereits zwischen dem dritten und dem vierten Lebensjahr und keinesfalls erst mit sechs Jahren. Das Erlernen des Lesens und das Erfassen der Lektüre ist eine Schulung des Intellekts, deren Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt für die Entwicklung unserer Kultur vermutlich nur schwer zu verantworten ist und zumindest ein Manko darstellt.

Das Lesenlernen im Vorschulalter erleichtert die Arbeit der Schule und gibt ihr die Möglichkeit für andere wichtige Aufgaben.

Die Befürworter des Frühlesens verweisen insbesondere auf die orthodoxen Juden Osteuropas, die seit Jahrhunderten ihre Kinder ab dem dritten Lebensjahr in hebräischer Schrift unterrichteten, was als einer der Bausteine für die Entwicklung einer geistigen Elite angesehen werden kann.

Im allgemeinen sollte man sich daran halten, Kinder aus einer kindlichen Gemeinschaft weder herauszuheben noch auszuschließen. Es hieße, sie lerntechnisch ihren künftigen Mitschülern gegenüber im Vorteil zu halten oder zu benachteiligen, was sie jeweils abseits der Klassengemeinschaft stellt.

österreichische und Schweizer Pädagogen sind einander deshalb darin einig, daß mit dem rein mechani-sehen Lesenlernen keineswegs die Erlernung der Schrift Hand in Hand gehen muß; im Gegenteil: während die Kleinen relativ leicht Buchsta-» ben, Worte und Sätze erfassen, wird erst mit dem Schreiben die Abstraktion effektiv erreicht, die man womöglich nicht vor dem sechsten Lebensjahr an das Kind herantragen sollte, ganz abgesehen davon, dall die Hand des Kleinkindes noch nicht dafür prädestiniert ist, Bleistift oder Feder für das Schreiben von Buchstaben zu gebrauchen.

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