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Digital In Arbeit

Tönende Pflanzen

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Multi-media-Atmosphäre auf der neunten Musik-Biennale Zagreb: in dem monumentalen Konzertbau „Va- troslav Lisinski“ am Rande der Stadt, in dieser Kulturstätte aus Beton, auf die mit Stolz schon der Taxifahrer den Fremden aufmerksam macht, ist die Neue Musik in Bewegung geraten. Kybernetische Plastiken senden, nähert man sich ihnen respektvoll, forsch oder neugierig, einen melancholischen Sound aus; Blattpflanzen tönen, nach digitaler Umwandlung ihrer elektrischen Lebensströme, als hätte Steve Reich das Morsealphabet aufbereitet. Zu dem Environment, das sich Peter Vogel, der Bastler kybernetisch-elektronischer „Reaktionsobjekte“, und John Lifton, Sympathie verströmender Konstrukteur des tönenden Wintergartens, der „Green Music“, für jugoslawischen Nachholbedarf nicht zum ersten Mal ausgedacht haben, zu dieser permanenten Klangausstellung also fügen sich harmonieträchtige Aktionen und das Publikum in Bewegung haltende Wandelkonzerte.

Weißgewandete, yoga-geschulte und daher unberührbare Wesen schwebten in gutgespielter Trance zu Robert Morans klangfarbengesättigter, konsonanzverzuckerter Musik treppauf und treppab; eine von Dubravko Detoni erdachte Environment-Spirale begann im Freien mit Ives’scher Polymelodik von Blaskapellen und Akkordeon-Or- chester, gab gleichsam im Zwischen stock Johan Cage die Ehre, stimmte mit Synthetiziser- und Video-Kreationen auf das zentrale Ereignis, die universale Schwingung ein: das Chorkonzert des Norddeutschen Rundfunks, ein „Kunst“-Ereignis, auch dies wiederum mit einem Zentrum. Karlheinz Stockhausen hat seinen vokalen Weltschaffungsmythos ,yAtmen_gibt das Leben, doch erst das Singen gibt die Gestalt“ für Zagreb um einen Abschnitt ergänzt, der - musikalisch - die Menschwerdung, die Individualisierung zum Thema hat; eingebunden in die Kräfte des Universums, in das Tutti von Chor und Orchester, edler Einfalt folgend, mit Kunstverstand und unüberbietbarem Eklektizismus gemacht. Höher und höher schraubte sich die Spirale Deto- nis: auf dem Gipfel, in dünner Luft, ließ Fernando Grillo den Kontrabaß Pirouette tanzen um den Bogen, duet- tierte dann mit dem Pianisten John Tilbury - eine tönend bewegte Skulptur aus Interpret und Instrument, Körper und Korpus, komponiert wie von Samuel Beckett.

In einer zweckentfremdeten Sporthalle, in der sich die Echos von Anfeuerung, Befehl und Zuruf abgelagert haben, wurde Kunst sich ihrer Entfremdung bewußt. Vinko Globokars „Car rousel“ drehte sich, ein kristallenes Gebilde, bewußt hermetisch und symmetrisch, eine Musik ä quatre -für vier Instrumentalgruppen ä vier und vier Singstimmen, mit vier Gedichten von Edoardo Sanguineti, die von den vier Elementen, den vier Jahreszeiten, den vier Temperamenten und den vier Lebensaltern handeln; ein Abbild des kompositorischen Handwerks an sich und der Poesie als Spiegelung des Universums, aber dem Trend bei Stockhausen genau entgegengesetzt. Denn Globokars musikalische Aktion, die wie ein Volkąfest beginnt und mit ästhetischer „Verschmutzung“ endet, mit der in Interviews aufgezeichneten Realität, mit Hinweisen auf die Macht ökonomischer Gegebenheiten über das idealistische Kunst-Reservat - diese Aktion mißtraut der Verbindung von Kunst und Mystik und individueller Erfahrung. „Carrousel“ versucht multi-medial eine Wirklichkeit aufzudek- ken, in der Kunst keine Chancen hat.

Hat die Zagreber Biennale Chancen, hat sie zumindest ein Konzept? Gewiß nicht; zu viele reden mit, es gibt nur eine organisatorische, keine thematische Koordination. Der um die Biennale-Gründung verdiente Komponist Milko Kelemen, an der Stuttgarter Musikhochschule lehrender Gastarbeiter,

beschränkt sich daheim auf Gastspiele, stilisiert sich zurück zum Berater in Problemfällen, hat auch wohl nicht die Kraft und Persönlichkeit zur Integration. Gleichwohl schälte sich für Hellhörige ein nicht-programmiertes Thema heraus: die Beziehung zwischen Kunst und Natur, Kunst und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt; die Verschränkung von beidem, das Aufein- ander-Angewiesensein - aber auch die Distanz in einer künstlichen, das heißt künstlich gemachten Reproduktionssphäre. Globokar bot eine Art Protokoll ohne die Andeutung einer Lösung, Karlheinz Stockhausen vertraut auf die heilenden Kräfte seiner Inspiration, Luigi Nono - an einem ihm gewidmeten Abend erstmals vor einer breiteren Öffentlichkeit als Dirigent auftretend - leistete die Vermittlung über das politisch soziale Engagement, Hans Otte und Ulrike Rosenbach gaben in „What’s the difference between you and me“ eine archetypische Darstellung, mit Peter Vogels Klangobjekten nahm eine Zagreber Gruppe tänze- risch-improvisierend Kontakt auf, John Lifton brachte die Beziehung Natur - Kunst per Computeranalyse zum Klingen. Auf diesem thematischen Hintergrund gewann das übliche Uraufführungs-Spektrum der Neuen Musik ungewohnte Helle und erlebnishafte Intensität, mußte es freilich auch unterschwellige Korrekturen hinnehmen.

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