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Triebdschungel und Grottenbahn

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Die Berliner Festwochen haben wieder begonnen. Mehrere Wochen gibt es alles zu sehen, was in der Bundesrepublik in und schick ist. Peter Stein inszeniert einen Vierstunden-Sha- kespeare und läßt das Publikum eine Stunde davon stehen, dafür wird der revolutionäre Elan eines Stückes aus den zwanziger Jahren auf die klassische Tour eingeebnet, Ferdinand Bruckner verfremdet. Die Berliner Festwochen, wie so viele ähnliche Veranstaltungen zu einem Musterbuch alles gerade Gängigem zweckentfremdet, spiegeln einmal mehr die innere Richtungslosigkeit einer ihre eigene innere Leere mit optischem Schnickschnack und nostalgisch eingefarbten Erinnerungsfetzen auffüllenden Zeit.

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Die Berliner Festwochen haben wieder begonnen. Mehrere Wochen gibt es alles zu sehen, was in der Bundesrepublik in und schick ist. Peter Stein inszeniert einen Vierstunden-Sha- kespeare und läßt das Publikum eine Stunde davon stehen, dafür wird der revolutionäre Elan eines Stückes aus den zwanziger Jahren auf die klassische Tour eingeebnet, Ferdinand Bruckner verfremdet. Die Berliner Festwochen, wie so viele ähnliche Veranstaltungen zu einem Musterbuch alles gerade Gängigem zweckentfremdet, spiegeln einmal mehr die innere Richtungslosigkeit einer ihre eigene innere Leere mit optischem Schnickschnack und nostalgisch eingefarbten Erinnerungsfetzen auffüllenden Zeit.

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Die Berliner Festwochen stehen heuer unter dem Signum künstlerischer Manifestationen aller Disziplinen in den vielgerühmten zwanziger Jahren sowie deren Epigonen bis in die Gegenwart. Da dürfen auch die instrumentalen, vokalen und verbalen Regungen der Dadaisten nicht fehlen. Ihr satirisch-ironischer Rückmarsch zu menschlich-tierischen Urlauten aus Zischen, Husten, Rülpsen, Schneuzen, kurz die Verballhornung unserer in jahrtausendelanger, kulturgeschichtlicher Entwicklung mühsam gewonnenen, wohlartikulierten Hochsprache feierte jetzt an der Spree wieder einmal fröhliche Urständ.

Erster Höhepunkt dieses dem Nonsens verhafteten Lautspektakels, dieser witzig-revolutionären Auflehnung gegen das Sprach-Pathos der wilhelminischen Ära waren die an den halsbrecherischen Wortmalereien eines Kurt Schwitters orientierten Verbal- Exhibitionen, dessen groteskes „Husten-Scherzo” und ähnliche verbale Slapsticks das Stuttgarter Exvoco- Trio mit virtuoser Zungenakrobatik unter die zumeist jugendlichen Zuhörer zündend spuckte. Wer freilich hinter dem literarisch aufmüpfigen Unsinn der Dadaisten, Futuristen und Wort-Monteure eine tiefere Bedeutung suchte, mußte ratlos auf der Stecke bleiben.

Prasselnden Beifall und die Vorliebe ihrer jugendlichen Zuhörer für das noch am Witz und Sinn Orientierte ernteten die beiden Wiener Satz- und Silben-Jongleure Ernst Jandl und Gerhard Rühm mit ihrer „österreichischen Sprechblasen-Artistik”, wie ein Berliner treffend sie und ihre Wortspielereien dadaistischen Erbes charakterisierte. Ihre Parodien machten Furore, was man freilich von den mit aufwendigem Instrumentarium von Flaschen, Glocken, Ratschen nebst stereophonischen Lärmmaschinen arbeitenden Mund- und Schallraumakrobaten aus Frankreich und England weniger behaupten konnte. Vor allem das mit Krähen, Bellen, Schręįen unter gewaltigen Körperver- rfenkungen agierende britische „Cheek”-Quartett scheuchte mit seinen kindlichen Primitivreaktionen die immer ungeduldiger und aggressiv werdenden Besucher aus dem Saal der Akademie der Künste.

Als wir Anfang 1948 Ferdinand Bruckner nach 14jähriger Abwesenheit von seiner Heimatstadt wieder in Wien sprachen, hatten ihn die Jahre der Emigration wohl reifer und nachdenklicher gemacht, ihm aber nichts von seiner scharf profilierten, psychoanalytischen Gründlichkeit und seinem humanitären Temperament geraubt Nach klug abwägenden Worten der Anerkennung über das Niveau unserer damaligen Theateraufführungen, zeigte er sich auch freudig erstaunt über die Fülle der Neuerscheinungen auf dem Büchermärkt von einer so großen Anzahl junger, ihm zumeist unbekannter Autoren. Und er verglich dann diesen literatischen Aufbruch mit jener Situation der zwanziger Jahre in Berlin, als er dort 1923 unter seinem bürgerlichen Namen Dr. Theodor Tagger das noch heute existierende Renaissance-Theater gründete und drei Jahre später unter dem Pseudonym Ferdinand Brücker mit dem Zeitstück „Krankheit der Jugend” an einer Hamburger Bühne Aufsehen erregte.

Von dem seinerzeitigen revolutionären Elan dieses an den sexualpsychologischen Erkenntnissen eines Sigmund Freud geschulten, fast reißerischen Studentendramas ist bei der jetzigen Aufführung von „Krankheit der Jugend”, mit der das Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses im Berliner Hebbel-Theater gastiert, nicht mehr viel zu spüren. Zumal Regisseur Peter Löscher die in dieser studentischen Wohngemeinschaft aufkeimenden erotischen Spannungen mit ihren wechselnden Kreuz- und Querverbindungen, gleichsam eine Art Triebdschungel psychisch und physisch angeknackter Typen, mit der epischen Breite eines Fast-Klassikers spielen läßt. Wobei dann auch der von Bruckner im Stenogramm-Stil verknappte, intellektuell schillernde Alltagsdialog so ziemlich unter die Räder kommt, woran sicher auch die wenig geschulte, saloppe Sprechweise der Akteure und die problematische Akustik des Hauses nicht ganz unbe- teüigt sind.

Der Berliner liebstes und vielbestauntes Regiephänomen Peter Stein und sein weniger sprachlich als artistisch-akrobatisch gedrilltes und diszipliniertes Schaubühnen-Ensemble aber düpiert seine Zuschauer mit einer zu visueller und zeitlicher Gigan- tomanie auswuchernden Inszenierung von Shakespeares „Wie es euch gefallt”. Vier Stunden lang, wovon die Besucher fünfzig Minuten, dichtgedrängt wie die Heringe, stehend vor einer durch ihre klassizistische Strenge beeindruckenden, in gleißende Helle getauchten Fassade den ersten Akt dieses pausenlos abrollenden Verwechslungsspiels von Liebe und Macht über sich ergehen lassen müssen. Bis sie einzeln durch einen schier endlosen, an Grottenbahneffekte mit Gerippen, Tropfsteinhöhlen und herabhängenden Lianen gemahnenden Irrgartengang zum eigentlichen Schauplatz im Ardennerwald, des verbannten Herzogs Freiluftexil, getrieben werden.

Gewaltig aufragende, eingetopfte Bäume, lebende Ziegen, ein wogendes Kornfeld, ein unter den Stürmen der Windmaschine sich kräuselnder Teich erfüllen die in die große Fümhalle der CCC-Studios am nordwestlichen Rande Berlins künstlich hineingepfropfte Naturkulisse. Das Auge kann schwelgen. Die Phantasie ist realiter vorweggenommen. Aber das Wort, die Faszination und die Intimität der Verse Shakespeares bleiben auf der Strecke. Schaubilder von am Theater bisher kaum erlebten Dimensionen übertönen und erdrücken sie. Das Theater spielt Kino - und vergißt sich selbst.

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