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Umgang mit Knigge

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Um die mir vorliegende neue Ausgabe zu überprüfen, wollte ich eine ältere erwerben, rief ein Antiquariat an und erhielt einen unschätzbaren Beitrag zu dem Thema „Knigge“: Ich fragte: „Haben Sie .Knigge, Umgang mit Menschen'? — Die Antiquariatsdame antwortete: „Ich werd' schauen. Wie heißt der Autor?“ Sie hielt „Knigge“ für den Titel.

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Um die mir vorliegende neue Ausgabe zu überprüfen, wollte ich eine ältere erwerben, rief ein Antiquariat an und erhielt einen unschätzbaren Beitrag zu dem Thema „Knigge“: Ich fragte: „Haben Sie .Knigge, Umgang mit Menschen'? — Die Antiquariatsdame antwortete: „Ich werd' schauen. Wie heißt der Autor?“ Sie hielt „Knigge“ für den Titel.

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Es gibt einen Weiß-Blauen Knigge und einen Wiener Knigge, es gibt Knigge-Witze. (Als der schiffbrüchige Freiherr von einem Wal attackiert wurde und einen Dolch zückte, sagte der Wal vorwurfsvoll: „Aber, Herr Knigge, Fisch mit dem Messer?“)

Ich erzählte, daß ich den Knigge lese, da sagte ein Freund: „Höchste Zeit!“ — Er ist ein Begriff, eine Chiffre geworden wie Krösus oder Judas.

Dabei war er gar nicht Präzeptor von Beruf, sondern ein vielseitiger Autor, Romancier, Dramatiker, Übersetzer. Sein Roman „Die Reise nach Braunschweig“ erschien als Reclam-Band. Doch nur eines seiner Werke wurde unsterblich wie Tosellis Serenade und Sindings „Frühlingsrauschen“: seine Anleitung zum Umgang mit Menschen.

Dem „Knigge“ heute zu begegnen, ist lehrreich und anregend, wenn man auch überrascht feststellt, daß er nicht das enthält, was man erwartet: ein Fisch-nie-mit-dem-Messer-Kompendium über den sogenannten guten Ton.

Die diesbezüglichen Vorschriften, die „kleinen Regeln des Wohlanstandes“ hat er auf engem Raum im dreiundvierzigsten Abschnitt des ersten Kapitels konzentriert; ganz nebenbei und ohne besonderen Nachdruck wird man summarisch angehalten, so wenig als möglich in einer Gesellschaft den Leuten den Rücken zuzukehren... auf steilen Treppen im Hinuntersteigen die Frauenzimmer vorangehen zu lassen _____bei Tische den abgeleckten-Löffel, womit man gegessen, nicht wieder vor sich hinzulegen... Nach knappen zwei Seiten dieser Art beginnt der vierundvierzigste Abschnitt mit dem Satz: „Soviel über den äußern Anstand und über schickliche Manieren“. Und dann bieten uns mehr als zwei Dutzend Kapitel Ratschläge und Hinweise nicht so sehr über das schickliche Benehmen als über die innere Einstellung zu den Nebenmenschen und die günstigste Art, mit ihnen zurechtzukommen.

Der Leser, der vom Autor geduzt wird („Suche keinen Menschen... In Gesellschaft lächerlich zu machen“, „Huldige nicht mehrern Frauenzimmern zu gleicher Zeit“), wird nicht um höherer Werte willen, sondern in seinem Interesse belehrt, wie er mit Menschen „umgehen“ möge. Unter den Partnern des Umgangs ist kurioserweise auch der Leser selbst; in einem Kapitel „Über den Umgang mit sich selbst“ heißt es: „Hüte dich also, deinen treuesten Freund, dich selber, so zu vernachlässigen, daß dieser treue Freund dir den Rücken kehre...“

Wie fast alle Ratgeber und Wegweiser und Leitfäden späterer Zeiten, sofern sie nicht konkrete Kenntnisse, sondern allgemeine Anweisungen zum erfolgreichen und glücklichen Leben vermitteln wollen, krankt auch ihr Urbild an der Hauptperson: an dem Leser.

Knigge rät ihm, wie er mit Älteren und Jüngeren, mit Unentschlossenen, Jähzornigen, Sonderlingen, Zerstreuten, Neugierigen umgehen möge, ohne zu berücksichtigen, daß ja der jeweilige Leser anders sein und anders handeln wird, wenn er älter oder jünger, jähzornig oder zerstreut ist. Eine real dargestellte Umwelt umgibt einen abstrakten Mittelpunkt; der Leser hat alle Eigenschaften und doch keine, der Schüler wird in der Pädagogik unterwiesen, ohne daß ihm pädagogische Betreuung zuteil wurde; und genau genommen müßte je ein „Knigge“ für phlegmatische, sanguinische, cholerisch-melancholische, melancholisch-sanguinische (diese und andere Gattungen unterscheidet Knigge) im Umgang mit herrschsüchtigen, ehrgeizigen, zanksüchtigen, rachgierigen und anderen von Knigge berücksichtigten Spezialcha-' rakteren auf den Markt gelangen.

Mein Verdacht: Daß schon von Anfang an nicht die praktische Nutzanwendung der Lebensweisheiten Knigges, sondern ihre Qualität als Lesestoff den Erfolg bestimmt hat. Und da mag die absolut gesetzte Figur des Lesers als Mann ohne Eigenschaften mitgespielt haben: jeder konnte sich in ihn hineinprojizieren, mit ihm identifizieren und sich den Nebenmenschen mit ihren Schwächen und Eigenarten überlegen fühlen, „weil er sich für den Hauptmenschen halft“ (Nestroy).

Ich sage „jeder“ und nicht „jede“. Denn für Knigge, den für seine Zeit (um 1788) vorurteilslosen Autor gibt es zwar ein Kapitel über den Umgang mit Frauenzimmern, aber keines über den Umgang mit Männern. Er hat nichts gegen jene, welche er gelegentlich auch Weiber oder Frauen oder Damen nennt, aber er meint, daß „die Frau eigentlich gar keine Person in der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht“, und er fühlt sich ihr gegenüber unzuständig, denn „weise Frauenzimmer allein“ könnten ihr „die besten Lehren über ihr Betragen im gesellschaftlichen Leben erteilen“.

Die Frauenzimmer von heute werden auch amüsiert zur Kenntnis nehmen, daß Knigge den „Greis“, der „Würde und Anstand verläug-net“, mit einer Dame von etwa vierzig Jahren gleichsetzt, welche „kokettiert“, oder gar „andern Generationen Eroberungen streitig machen will“.

Zeitgemäßer wirkt Knigge, wenn auch er wie jeder kritische Zeitgenosse seit jeher findet, daß die „heutige Jugend“ nicht mehr das ist, was die Jugend früher einmal war („daß der Ton, welcher jetzt unter unseren ganz jungen Leuten ... eingeschlichen ist, mir gar nicht so gefallen will, wie der, welcher vor etwa zwanzig Jahren herrschte“).

Scheint er in solchen und anderen Zusammenhängen sehr konservativ („Es gibt in jeder Stadt eine Partei solcher Unzufriedener, sei es nun mit der Regierung, oder gar mit der Gesellschaft. Zu Diesen geselle dich also nicht.“), ist er anderseits überraschend aggressiv gegen die „Großen der Erde“, die „Vornehmen und Reichen“; „die meisten von ihnen“ sind laut Knigge „ungesellig, kalt, unfähig zum ächten Freundschaftsbunde und schwer zu behandeln im Umgange“. Und über die Hofleute, welche die Fürsten und Vornehmen „nachäffen“, ergießt sich ein Schwall von Vorwürfen: „Flachheit... Unverschämtheit ... Kälte gegen alles, was gut, edel und groß ist... Aufopferung auch des Heiligsten, um seine Zwecke zu erlangen, Falschheit, Untreue, Verstellung...“

Mitten in seinen Ausführungen über die „Großen der Erde“ holt Knigge zu einem großen politischen Credo aus, das durch Sperrdruck besonders hervorgehoben wird: die „Erdengötzen“ mögen nicht vergessen, daß sie „was sie sind und was sie haben, nur durch Ubereinkunft des Volkes sind und haben... daß alles, was sie besitzen, unser Eigentum ist...“

Aber man darf keine voreiligen Schlüsse ziehen, denn Knigge überrascht uns wieder. Er ist gegen die Mächtigen, aber nicht für die „Geringem“. Man sei höflich und freundlich gegen sie, gewiß, aber man hüte sich vor Vertraulichkeit gegen „solche Menschen, die keine feine Erziehung haben“.

Knigges Einwände gegen Handwerksleute sind allerdings zeitlos: „Sie versprechen, was sie weder halten können noch halten wollen, und übernehmen mehr Arbeit, als sie in der verheißnen Frist zu liefern imstande sind.“ Seine Ratschläge für den Umgang mit ihnen dürften allerdings schon damals nicht sehr wirksam gewesen sein: „In ihrer Gegenwart schreibe ich mehrenteils die Stunde auf, in welcher sie die Arbeit zu liefern verheißen; ist nun diese Stunde erschienen und sie stellen sich nicht ein, so haben sie vom frühen Morgen bis in die Nacht... keine Ruhe.“

Ganz schrecklich findet Knigge die Bauern; er leugnet nicht, daß es ihnen miserabel geht, aber er wirft ihnen vor, daß „sie nie zufrieden sind, immer klagen, immer mehr haben wollen...“ und kommt zu dem absonderlichen Schluß, daß „wir selbst“ durch „Vernachlässigung ihrer Bildung daran Schuld“ seien, „daß niederträchtige Gesinnungen bei ihnen herrschend werden“.

Vermutlich können wir von des Adolph Franz Friedrich Freiherrn von Knigge „Vorschriften zu einem glücklichen, ruhigen und nützlichen Leben in der Welt“ heute mehr lernen als seine damaligen Leser. Denn sein Buch ist noch immer ergiebiger Lesestoff und informiert uns über das Weltbild und Menschenbild eines aufgeklärten Deutschen im Zeitalter der Französischen Revolution (die Knigge verteidigte).

Die Neuausgabe ist also verdienstvoll, auch weil sie nicht exzerpiert, sondern den ganzen Text bietet, den man gewiß nicht in extenso lesen, aber mit Gewinn und Vergnügen durchblättern wird. Allerdings ist dieser Text photomechanisch der alten Reclam-Ausgabe abgewonnen, erschwert also durch veraltete Fraktur-Typen vor allem jüngeren Lesern den optischen Umgang mit Knigge.

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