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Die Wahrheit über Knigge

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Die Welt mag aufhorchen und allenthalben ungläubig den Kopf schütteln, wenn sie vernimmt: Adolph Freiherr von Knigge hat niemals ein Buch geschrieben, das die mehr oder minder wichtigen Kapiteln der guten Umgangsformen zum Thema hatte. Sein Werk „Ueber den Umgang mit Menschen” war weit davon entfernt, die Nützlichkeit und die Vorzüge des richtigen Benehmens in Gesellschaft hervorzuheben, sie zu preisen und zu predigen; es stellt in Wahrheit ein Sammelsurium von Lebensweisheiten, dar, die sich nicht auf äußere Formen beziehen, sondern auf unsere innere Haltung, auf Seelenleben, Charakterbildung und Denkungsart.

Die Wurzel des populären Mißverständnisses liegt wohl im Titel seines Buches — und vor allem darin, daß die wenigsten es gelesen haben, also die Materie gar nicht kennen. Sonst wäre es doch undenkbar, jeden x-beliebigen „Leitfaden für gutes Benehmen” kurzweg „Knigge” zu nennen.

Daß Herr Knigge ein erhebliches Maß an Menschenkenntnis und Erfahrung besessen hat, erhellt aus seinen Betrachtungen über die Wege und Möglichkeiten, das Leben vornehm und erträglich zu gestalten; und wenn Knigge auch für den Begriff der Masse den Terminus techni- cus „Haufen” prägte (zum Unterschied von Nietzsche, der dafür das Substantivum „Herde” wählte), so steht er seiner Mitwelt nicht ohne Ehrfurcht und dem Leben durchaus positiv gegenüber.

Das nun ist der Vorzug Knigges, des Popular- philosophen, der weit davon entfernt war und gewiß auch gar kein Interesse daran fand, seine Zeitgenossen mit praktischen Tips auszustatten, wie man sich in Gesellschaft richtig und nach vornehmer Art zu benehmen hätte: daß er an eine Besserungsmöglichkeit des Individuums glaubte und der Veredlungsidee der menschlichen Gesellschaft mit wahrem Fanatismus nachhing; und daß er dieser Idee seine Gedanken und hochherzigen Bemühungen in so reichlichem Maße zuwandte. Sein Leitmotiv dabei lautet: Nicht auf die Umgangsformen kommt es an, sondern auf die Eigenschaften!

Knigge versucht, uns mit viel Eifer und redlichem Glauben klar zu machen, daß unser Glückszustand beziehungsweise das, was man je nachdem dafür hält, Charaktersache sei; es käme auf unsere Lebensansprüche an, auf unsere Erwartungen und Forderungen, sagt er, auf die Art, wie wir die Welt und unsere Mitmenschen anschauen und mit diesen „Umgang” pflegen: Und vor allem, mit welchen ethischen Voraussetzungen wir dies tun und welche Befriedigung wir hieraus schöpfen.

Er führt uns durch das Labyrinth der vielartigen Gemütsverfassungen, der Temperamente und Anlagen in ihren unerschöpflichen Abstufungen und Schattierungen, und hat für jede Nuance das erprobte Rezept des passenden „Umganges”.

So sagt er beispielsweise über das „Betragen” gegen Undankbare, die selbst bei den edelsten und weisesten Handlungen weder Erfolg noch Dankbarkeit beweisen, daß sich der kluge Menschenkenner und warme Freund des Guten dadurch nicht abschrecken lasse, großmütig zu handeln. Er betont, daß jede gute Tat sich selbst belohne, und daß der Edle eine neue Quelle von innerer Freude aus der Undankbarkeit der Menschen zu schöpfen verstehe, nämlich die Freude, selbst dann uneigennützig, bloß aus Liebe zum Guten, Gutes zu tun, wenn er voraus weiß, daß er auf keine Erkenntlichkeit rechnen darf …

Knigges Streben ist darauf gerichtet, unserer inneren Entwicklung ein ethischer Wegweiser und Ratgeber zu sein. Er predigt Großherzigkeit, Edelmut, Nachsicht und Vergebungsbereitschaft, ebenso wie Toleranz, Charakterstärke und Bescheidenheit, er macht diese und noch andere vorzügliche Eigenschaften zur Grundlage unseres „Umganges” mit dem Nächsten, aber er spricht niemals dabei vom richtigen Benehmen in Gesellschaft, von guten Tischmanieren und dergleichen: Knigge meint eben etwas ganz anderes und darin liegt die Tragik seines mißverstandenen Werkes: Wie man mit seinen Freunden „umzugehen” habe, über die „Verhältnisse zwischen Herrn und Diener”, vom Betragen „gegen Hauswirte und Nachbarn”, über das Betragen „in Gesellschaft betrunkener Leute”, Vorsichtigkeitsregeln „im Umgänge mit vornehmen Dummköpfen”, „Aufführung gegen einen gestürzten Großen”, „über den Umgang mit Geistlichen”, „über geheime Verbindungen und dem Umgang mit den Mitgliedern derselben” und so fort…, das ist ein Auszug aus den zahllosen Sparten, denen er seine Weltverbesserungsideen vor allem zuwendet.

Nächst den natürlichen Gütern, nächst der Wohlfahrt des Geistes, der Seele und des Leibes ist in der bürgerlichen Gesellschaft der sichere Besitz des Eigentums das „Heiligste” und „Teuerste”, sagt Knigge in seinem Kapitel über die Juristen. Wer dazu beiträgt, uns diesen Besitz zuzusichern — wer sich weder durch Freundschaft noch Parteilichkeit, noch Weichlichkeit, noch Leidenschaft, noch Schmeichelei, noch Eigennutz, noch Menschenfurcht bewegen läßt, auch nur einen einzigen kleinen Schritt von dem geraden Wege der Gerechtigkeit abzuweichen —, wer durch alle Künste der Schikane und Ueberredung, durch die Unbestimmtheit, Zweideutigkeit und Verwirrung der geschriebenen Gesetze hindurch klar zu schauen und den Punkt, den Vernunft, Wahrheit, Redlichkeit und Billigkeit bestimmen, zu treffen weiß — wer der Beschützer der Armen, des Schwächeren und Unterdrückten gegen den Stärkeren, Reicheren und Unterdrücker — wer der Waisen Vater, der Unschuldigen Retter und Verteidiger ist — der ist gewiß unsrer ganzen Verehrung wert…

Knigge, der große Menschenkenner, ächtet Selbstsucht und rücksichtslosen Egoismus, er rügt Hartherzigkeit und die Ueberheblichkeit des Standesdünkels, er verdammt Geiz und Mißgunst und verurteilt niedrige Dränge und Gelüste, denen nicht die Kraft und Größe eines ehrlichen Willens und der reinen Gesinnung gegenüberstehen.

„Sei dir selber ein angenehmer Gesellschafter. Mache dir keine Langeweile, das heißt: Sei nie ganz müßig. Lerne dich selbst nicht zu sehr auswendig, sondern sammle aus Büchern und Menschen neue Ideen … Der langweiligste Gesellschafter für sich selber ist man ohne Zweifel dann, wenn man mit seinem Herzen, mit seinem Gewissen in nachteiliger Abrechnung steht..

So schreibt Knigge in dem Kapitel „Ueber den Umgang mit sich selbst”.

Ein andermal sagt Knigge (Umgang mit Freunden): „Klagt dir ein Freund seine Not, seine Schmerzen, so höre ihn mit Teilnehmung an! Halte dich nicht mit moralischen Gemeinsprüchen auf, mit Bemerkungen über das, was anders hätte sein können, da es doch einmal nicht anders ist. Hilf, wenn du es vermagst, tröste und verwende alles, was ihm Linderung geben kann …”

Knigge will in der Tat nichts anderes, als helfen, beschwichtigen, veredeln, aber er will nicht formen oder reformieren, er will bloß erwecken, was er an sich vorhanden weiß, er will das Schlummernde beleben, das Gebundene freimachen, das Instinkthafte bewußt machen und unserer Handlungsweise eine gute sittliche Substanz zugrundelegen.

Das ist Knigge, das ist sein Wille und sein Streben: Er löst die bedeutungsvolle Frage, worauf es ankomme, auf taktvolle und scharmante Weise, obschon er zuweilen die energiegeballte Faust unhöflicher Wahrheiten schwingt. Solange die Welt besteht, hat man sich darüber die Köpfe zerbrochen (nämlich über die Frage „worauf es ankommt”) und kam doch niemals über hypothetische Formeln hinaus. Knigge argumentiert mit der Ueberzeugungs- kraft, Herzensgüte und Nächstenliebe, mit der Verständigkeit des Leid- und Welterfahrenen. Er hat die Ungunst des Schicksals am eigenen Leib zu spüren bekommen, und doch sind seine Episteln der Lebensklugheit ohne jede Bitterkeit und Ressentiments. Er will beileibe kein kompromißloser Diktator sein, sondern wendet alle Behutsamkeit auf, mit der man den Eitelkeiten, den Voreingenommenheiten und Schwächen der Menschheit begegnen muß.

Gute Beziehungen und gute Umgangsformen sind nicht dasselbe. Das eine ist innerlich, das andere rein äußerlich. Das eine ist Ausdruck und Produkt unserer Seele, unseres Intellekts, unserer Mentalität, das andere (äußerliche) ein Mäntelchen, das man seiner wahren Gesinnungsart umhängt und solcherart seine Mitwelt — gewollt oder ungewollt — hinters Licht führt: Auch der Bösewicht kann dadurch blenden, daß er sich wie ein vollendeter Gentleman aufführt, und der äußerlich armseligste, bescheidenste Tropf kann im Herzen ein wahrer König sein!

Das hat Knigge in seinem „Umgang mit Menschen” immer wieder betont und herausgearbeitet, das ist die Quintessenz seiner humanen Betrachtung und seiner Lebensweisheiten, und der Gewinn für jedermann, der Knigges heute genau so wie ehedem aktuelles Werk zu lesen versteht. Dies betrachtet er, kurz rekapituliert, als die Kardinalfrage: Wie verhalte ich mich meiner Mitwelt gegenüber, um zwischen dieser und mir ein erträgliches Verhältnis herzustellen? Wie (mit welchen Eigenschaften ausgerüstet) muß ich ihr begegnen, daß sich diese Beziehungen für beide Teile als würdig und befriedigend erweisen? Mit guten Manieren ist solches erfahrungsgemäß nie zu erreichen, denn damit tänzelt man am Kern des Problems vobei; guter Wille und starke Vorsätze bringen uns weitaus rascher und sicherer an das Ziel heran. Die schwierigste aller Künste, nämlich die der Menschenkenntnis, besteht vornehmlich darin, von der Handlung auf den wahren Beweggrund zu schließen, sie ist immer ein Vorrecht der Weisen und Erkorenen gewesen! Knigge selbst hat diese seltene Kunst beherrscht…

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