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Unter der Tarnkappe

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Ich war das Kind Anni. Ich las zu viel, dachte mir Geschichten aus und träumte mit offenen Augen. Manchmal war ich Prinzessin, manchmal das arme Kind, das sein Hemdchen verschenkte, manchmal der Held, der den Drachen erschlug. Abends holte ich mir heimlich einen ganz kleinen Stern vom Himmel, rieb ihn mit dem Taschentuch blank und lehnte ihn an den großen Kleiderschrank, der im Zimmer stand, er verbreitete ein sehr sanftes Licht und schimmerte wie die sternförmigen Perlmutterknöpfe an jenem Abendkleid, das meine Mutter zum Feuerwehrball trug.

Manchmal erfand ich seltsame Spiele. Zum Beispiel ging ich, einen Spiegel vor mir hertragend, durch alle Räume unserer Wohnung, bewegte mich, in den Spiegel blickend, über die schneeweißen Abgründe der weißgestrichenen Zimmerplafonds, aus denen Glasluster und Hängelampen an Ketten und Seidenschnüren steil emporragten, balancierte über Vorhangstangen, stürzte beinahe von der oberen Kante eines Türstockes in die mit grellbunten Arabesken bemalte Feuerschlucht des Vorzimmerplafonds, fing mich noch rechtzeitig im Fallen, schwebte, entfaltete unsichtbare Flügel, ich war ja keine Menschentochter, meine Mutter hatte mich nicht geboren, sie hatte mich im Wald gefunden, eines Tages würde sie mir gestehen, daß ich ein Elfenkind sei.

Vor den Fenstern schien die Sonne oder rauschte der Regen, klapperten die Hufe von Zugpferden, rollten die eisenbeschlagenen Räder der Bauernwagen über das Granitpflaster der Straße, erklang der schaurige Ruf des Kalkbauern, WAAAPNO, WAAAPNO, halb gesungen, halb geschrien, ich kannte zwar die Bedeutung dieses Rufes, aber ich stülpte trotzdem meine Tarnkappe über, sicher war sicher, so würde er mich nicht finden, so war ich unsichtbar geworden, auch für die alte Frau, die ihr Haus an der Straße hatte, die zum Hof der Großeltern führte, die einen weißen Spitz besaß und eine Hexe war.

Ich war das Kind Anni, aber ich hatte mehrere Namen, ich hörte auf Anni genauso wie auf Anninka, oder moja ma-linka, was soviel wie MEINE KLEINE hieß. Beim Spiel mit den Freunden zählte ich zweisprachig, EINS ZWEI DREI oder JEDEN DVA TRI. Die Landeshymne beherrschte ich in zwei Varianten. KDE DOMOV MUJ, KDE DOMOV MUJ, oder auch WO IST MEIN HEIM, MEIN VATERLAND, WO AUF WIESEN BÄCHE BRAUSEN, WO AUF FELSEN WÄLDER SAUSEN, WO EIN EDEN UNS ENTZUCKT, WENN DER LENZ DIE FLUREN SCHMÜCKT. DIESES LAND, SO SCHÖN VOR ALLEN: BÖHMEN IST MEIN HEIMATLAND, BÖHMEN IST MEIN HEIMATLAND.

Ich war das Kind Anni, ich stand vor einem ovalen Tisch, der Tisch stand im Speisezimmer und hatte eine Platte aus poliertem Nußholz, an den Rändern waren Girlanden aus helleren Hölzern eingelegt. Auf dem Tisch lagen weiße, beschriebene Blätter ausgebreitet, auf einem der Blätter waren sauber gezeichnete rechteckige Kästchen pyramidenförmig angeordnet, in die Kästchen hatte der Vater Namen und Daten geschrieben.

Die Breitseite der Pyramide war nach oben gerichtet, die beiden untersten Kästchen waren durch zwei dünne, schräg zueinander laufende Linien verbunden. Wo sich die beiden dünnen, schräg zueinander laufenden Linien berührten, war noch einmal ein Kästchen gezeichnet, in dem Kästchen stand mein eigener Name.

Das sind deine Vorfahren, sagte der Vater. Er nahm einen Bleistift in die Hand, deutete auf die Kästchen und las mir die Namen vor. Vier Großeltern hatte ich, acht Urgroßeltern, sechzehn Ururgroßeltern. Weiter oben, gegen den Blattrand hin, gab es leere Kästchen, in denen keine Namen standen. Von ihnen wissen wir nicht, wer sie waren und wie sie geheißen haben, sagte der Vater, aber wir werden es vielleicht noch erfahren.

Von den Namen, die er schon kannte, fand ich manche seltsam, ich hatte sie noch niemals nennen gehört, und in unserer Gegend hieß niemand so. Andere klangen mir vertraut, aber ich hatte sie nie mit unserer Familie in Verbindung gebracht.

Die Apfelbecks waren in Kleinmariazell zu Hause, sagte der Vater, die Scheikls in der Steiermark. Die Ko-blischkes sind vor mehr als sechshundert Jahren nach Böhmen eingewandert, auch die Kröglers, auch jene, die so heißen wie du. Die Steurers kamen aus der Silberstadt Kremnitz, Kremnitz liegt heute in der Slowakei, früher hat es zu Ungarn gehört. Die Vorfahren des Vaters deiner Mutter stammen aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Sloup, das ist dort, wo die großen Tropfsteinhöhlen sind und die Mazo-cha, du weißt doch, die tiefe Schlucht, von der man sagt, daß einst eine Mutter ihr Kind hinuntergestürzt hat.

Die erste Silbe des Namens, den deine Mutter getragen hat, als sie noch nicht verheiratet war, bedeutet Erde, wenn man sie ins Deutsche übersetzt, sagte der Vater.

Dann ist die Mutter früher keine Deutsche gewesen, fragte ich.

Früher, sagte der Vater, als du noch nicht geboren warst, waren wir alle Österreicher.

Das verstand ich nicht.

Hier, sagte der Vater und deutete mit dem Stift auf das unterste Kästchen, dies ist dein eigener Name, das bist du.

Ich dachte mich in das Kästchen hinein, ich sah mich eingeschlossen in das Kästchen, die beiden schräg zu dem Kästchen gezogenen Linien liefen auf mich zu, sie waren mit den Kästchen der Eltern verbunden, ich dachte mir Vater und Mutter eingeschlossen in diese Kästchen, die wiederum durch schräg auseinanderlaufende Linien mit vier weiteren Kästchen verbunden waren, die Großeltern waren noch alle vier am Leben, ich dachte sie mir in die Tür sie bestimmten Kästchen hinein, sah weitere Linien auf weitere Kästchen zulaufen, in diesen Kästchen lagen die schon Verstorbenen, also die Toten, ich bekam Angst vor der Pyramide, die auf das Blatt gezeichnet war, ich hatte das Gefühl, die Pyramide auf meinen Schultern tragen zu müssen, alle die noch Lebenden und die schon Verstorbenen, die vor mir gelebt hatten, ich fühlte plötzlich ihr furchtbares Gewicht auf meinen Schultern, ich versuchte, meine unsichtbaren Flügel zu entfalten, es gelang mir nicht, ich war kein Elfenkind mehr, ich war ein ganz gewöhnliches Kind, von Menschen geboren, die wieder von Menschen zur Welt gebracht worden waren, die wiederum menschliche Eltern gehabt hatten und so fort.

Ich fühlte die Gewichte der Vergangenheit auf meinen Schultern, einer Vergangenheit, die aus Menschen bestand, die Menschen hatten in mir unbekannten Gegenden gelebt, vielleicht in unheimlichen Tropfsteinhöhlen, vielleicht in Schluchten, ich fürchtete mich, mir blieb nur die Möglichkeit, meine Tarnkappe überzustreifen, mich unbemerkt fortzuschleichen, aus dem Zimmer zu laufen, aber auch die Tarnkappe rettete mich nicht, ich war nicht unsichtbar geworden, meine Mutter sah mich trotzdem, ich hörte, wie sie zum Vater sagte: Laß das Kind, belaste es nicht mit dem, was gewesen ist.

Ich hörte auch noch, wie sie sagte: Später einmal wird sie sich vielleicht dafür interessieren.

Rudolf Henz

Vorspruch zum Staatsfeiertag

Beschwört noch einmal die Apokalyptischen Reiter, auch wenn die Augen schmerzen, an die Farben des Friedens gewöhnt, oder die Angst vor dem Kommenden in Nebel einhüllt, was hinter uns liegt.

Wer nicht vergessen kann, wie soll er in diesem Jahrhundert noch atmen?!

Einmal noch, Freunde, beschwört sie:

Stählerne Hufe über unseren Köpfen, flammenschnaubende Rachen, die grauen, die braunen, die roten Panzer der Reiter!

Wir, in Trümmer geduckt, qualmbetäubt, lärmgelähmt, um Rettung betend, nur um Vorübergang.

Die alten Plagen: Krieg, Hunger und Seuchen, Lüge und Hoffart; die neuen, die Plagen unseres Jahrhunderts: Verzweiflung vor täglich perfekteren Mordmaschinen, Folter, Völkermord, Sklaverei. Inmitten des unaufhaltbaren Fortschritts der Aufstand menschlicher Bestien!

Wo ist Sprache, zu schildern, was damals geschah, euch allen geschah, auch den Nachgeborenen?!

Zerstampfte Felder und Gärten!

Verwüstete Gewissen und Herzen!

Der Brand dieses Hauses!

Die Sinnlosigkeit eines verendenden Krieges!

Wer auch wollte mit diesen Bildern

Söhne und Enkel erschüttern? Wer zwingt sie, für wahr zu halten, was uns widerfahren, uns eingebrannt ist,

Elend und Schuld!

Nein, andere Bilder, Freunde: auf einer Brandruine zwischen zerfetzten Drähten,

Rot-Weiß-Rot, die alte Fahne, sieben Winter versteckt, verdammt für tausend Jahre, nun wieder die Fahne der Freiheit, keine andere, nur sie!

Der Name Österreich auf den Tafeln gelöscht, in Registern gestrichen, eine erloschene Firma, von Liebdienern peinlich gemieden, den Vielen letzte Hoffnung, hinausgerufen nur noch vor dem Fallbeil, nun ist er wieder da auf einem Stück Zeichenpapier, mit Kreide geschrieben auf ein zersplittertes Tor.

Unbefleckt aber von allem, was sieben lange Jahre über uns gekommen ist und über die Welt. -

Vor zwanzig Jahren, an die Farben des Friedens gewöhnt, haben die Boten und Bürgen der Wiedergeburt diesen geheiligten Namen nicht um ein Linsenmus verkauft, nicht um ein wenig Sicherheit, auch nicht um ein huldvolles Lächeln der Mächtigen.

Nun war ja nicht bloß ein Land wieder frei, ein Krieg am Erlöschen, eine alte Fahne wieder das Zeichen der Zuversicht, ein Name herrlicher Auftrag und Aufruf; dies noch in Trümmern liegende Land mit leeren Werkstätten, verstörten, hungernden Menschen, dies Österreich war nicht mehr ein zuckender Rest,

Staat wider Willen, Versuchsstation für Abenteurer, Gekränkte und Narren.

Was ehdem kein Rühmen der Heimat vermocht, kein Traktat, kein Beweis, nicht die eindringlichste Lehre, die es auslöschen wollten, sie haben dies Österreich wieder den zögernden Herzen erschlossen, und an Verbot und Verlust uns gezeigt, was wir an diesem Land besitzen. Das, Freunde, war unser Wunder! Hütet das neue Wissen, die endlich an euch selbst erfahrene Wirklichkeit! Schämt euch der Liebe zur Heimat nicht! Werdet nicht eng in der Enge, kleinlich im Kleinen! Laßt euch vom Glauben an Österreich hinaustragen über euch selbst.

Dies Österreich ist keine Insel.

Auch wir sind aufgerufen, die Konturen der neuen Erde mit zu entwerfen, - hör es, Jugend! und in die Tafeln des späten Jahrhunderts endlich die wirkliche Freiheit einzuschreiben, die gerechtere Ordnung, die Abkehr von allen Götzen, die Uberwindung von jedem Machtrausch und Größenwahn, das neue, das fruchtbare Miteinander der Völker.

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