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Von Marionetten gelernt

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„In den Händen des Spielers hat die Puppe eine ungeheure Macht..Sergej Obraszow, der große russische Puppenspieler, sprach auch von der Faszination, die von diesen bewegten Skulpturen ausgeht, die nicht Menschen imitieren, sondern die allgemeingültige Charakteristik einzelner menschlichr Eigenschaften liefern. Nicht von ungefähr waren die Puppenspieler in der Vergangenheit verfemt, scheute man doch die Satire, den Spott und das entlarvende Gelächter, welches in ihren Händen tote Gegenstände auszulösen vermochten. Für Obraszow ist das Puppenspiel freilich nicht allein Satire; er sucht nicht nur nach einem neuen Swift, sondern auch nach einem neuen Homer. Diese Balance gehört mit zum Wesen des Puppenspiels, zwischen der gläubigen Darstellung des Heroischen und seiner unerbittlichen Preisgabe..

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„In den Händen des Spielers hat die Puppe eine ungeheure Macht..Sergej Obraszow, der große russische Puppenspieler, sprach auch von der Faszination, die von diesen bewegten Skulpturen ausgeht, die nicht Menschen imitieren, sondern die allgemeingültige Charakteristik einzelner menschlichr Eigenschaften liefern. Nicht von ungefähr waren die Puppenspieler in der Vergangenheit verfemt, scheute man doch die Satire, den Spott und das entlarvende Gelächter, welches in ihren Händen tote Gegenstände auszulösen vermochten. Für Obraszow ist das Puppenspiel freilich nicht allein Satire; er sucht nicht nur nach einem neuen Swift, sondern auch nach einem neuen Homer. Diese Balance gehört mit zum Wesen des Puppenspiels, zwischen der gläubigen Darstellung des Heroischen und seiner unerbittlichen Preisgabe..

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Dies hängt vermutlich mit seinem kultischen Ursprung zusammen; damit, daß es den Menschen verwehrt war, Götter und Helden darzustellen, was den Puppen Vorbehalten blieb. Aus der Antike im griechischen Mittelmeerraum sind freilich bereits satirische Züge des Puppenspiels überliefert; Marionettenspieler durften an den Orten auftreten, an denen die Dramen des Euripides gespielt wurden, und die Philosophen sahen in der an Fäden hängenden Puppe das Wesen des Menschen versinnbildlicht. Das Weltfestival der Puppentheater, das, im Rahmen der Wiener Festwochen, zur Zeit im Museum des 20. Jahrhunderts stattfindet, wirft ganz allgemein die Frage nach dem Verhältnis des heutigen Puppentheaters zum Publikum auf und zwingt Im besonderen zur Bestandaufnahme des Puppenspiels in Österreich. Erwin Piplits hat zu diesem Zweck eine kleine, aber instruktive Ausstellung arrangiert, die zugleich ein Aufruf ist, die österreichischen Bestände zu sammeln und vorzuführen. Der nackte, bisher nicht identifizierte Kasperl vom Dachboden der Theatersammlung der Nationalbibliothek sollte zu denken geben!

Wer nun einmal mit den Grundprinzipien des Puppenspiels vertraut ist — der Handpuppe, der Marionette und der Stabpuppe — der wird umgehend mit einer Fülle von Fragen konfrontiert. Soll das Puppentheater-Festival nicht folgenlos bleiben, wie dies dem Ballett- Festival beschieden war, so müssen nicht nur die historischen Bestände gesammelt werden, sondern auch brauchbare Spielstätten eingerichtet und Auäbildungsmöglichkeiten für professionelle Puppenspieler geschaffen werden. Weitere Fragen sind dramaturgischer Natur: Kann man sich damit begnügen Ruprechts Prachtmarionetten in Bewegung zu setzen, Teschners Figurenspiegel vorzuführen oder zu Tonbändern von Brecbt-Weills „Mahagonny" Marionetten tanzen zu lassen?

Die Vorführungen des Straßen- theaters vor Beginn der Festwochen (unter anderem wurden Stücke von Artmann und eine Kartoffel-Komödie von 1880 gezeigt) offenbarten, daß Wiens Kinder nur nach dem Kasperl rufen, förmlich auf den Kasperl gedrillt sind und anderen Formen des Puppentheaters verständnislos gegenüberstehen. Wer nun heute dem zum pädagogischen Werkzeug herabgesunkenen, grausamen und boshaften Kasperl den Kampf ansagt, braucht nicht mit Metternich in einen Topf geworfen zu werden. Revolutionäre Züge fehlen dem heutigen Kasperl, der viel mehr der Verewigung bestehender Verhältnisse

Handlangerdienste leistet. Auch ist eine Mystiflzierung des Puppen- Spiels nicht länger aktuell, und die Puppe sollte nicht bloß zur Darstellung unserer mechanisierten, kommunikationsarmen Gesellschaft verwendet werden, wo sie doch viel gezielter typische Eigenschaften des Menschen gültig auszudrücken vermag. Michail Koroliow spricht vom schöpferischen Bündnis zwischen dem Schauspieler und dem bildenden Künstler im Puppentheater; man konnte in der Tat bei diesem Festival bereits erleben, wie sich die Ausdruckskraft des Menschen in der Puppe fortsetzt und vervielfacht. Der entscheidende Schritt zu einem gegenwartsnahen Puppentheater wird stets dort vollzogen, wo die Puppe als Requisit in den Händen des Puppenspielers begriffen wird. Daß sich tote Gegenstände zum Leben erwecken lassen, sofern der Spielraum der Phantasie nicht durch ästhetische oder gesellschaftliche Vorurteile begrenzt ist, braucht nicht verschleiert zu werden.

Sergej Obraszow, der mit dem Zentralen Puppentheater aus Moskau das Festival spektakulär er- öffnete, demonstrierte technische Perfektion und ein, in bereits 3788 Vorstellungen ausgefeiltes, parodistisches Programm. Sein „Ungewöhnliches Konzert“ war eine hinreißende Abfolge von Schlaglichtem auf unser Musikleben; der Lust des Ghorgesanges, den Strapazen der Koloratursoprane, der Verzückung der Tango-Tänzer oder der Operetten-Seligkeit waren köstliche Nummern gewidmet. Zirkusakrobatik und musikalische Hundedressur kamen nicht zu kurz, und selbst Kagels „Staatstheater“ hatte bereits ein satirisches Gegenstück. Da gab es in einem ultramodernen Quartett türenknallende oder die Klosettspülung auf Zeichen betätigende Puppen, deren Darbietungen jeweils durch einführende Worte des Dirigenten, die den Kommentaren der Studios neuer Musik glänzend nachempfunden waren, erläutert wurden. Die Satire des heute 70jährigen Obraszow ist sanft, liebenswürdig und nahezu väterlich. Sein Puppenspiel ist loyal, wenngleich die Absicht unverkennbar ist, der bürokratischen Erstarrung allerorten zu opponieren. Der selbstbewußte, etwas dümmliche Conferencier — der in Wien von seinem russischen Darsteller deutsch gesprochen wurde — entlarvte typische Züge eines reglementierten Zusammenlebens und vertiefte zugleich das Vertrauen in die unverwüstliche Menschlichkeit. Wie dabei Stabpuppen, die unsichtbar oft von mehreren Spielern geführt wurden, virtuos die Spielleiste bevölkerten oder eine Handpuppe als meisterlieh klavierspielender Säugling brillierte, war von umwerfender Lebendigkeit.

Der Franzose Andrė Tahon fand mit einem noch simpleren Prinzip sein Auslangen, der mittelalterlichen Marottö, einem Holzstock, auf dem der Puppenkopf sitzt, und der den Narren einst als Szepter diente. Tahon geht erst hinter den Vorhang, nachdem er sein „Prinzip“ ausführlich demonstriert hat, ja er läßt sogar nach der Pause den Tanz russischer Bäuerinnen wiederholen und vor dem Vorhang vorführen. Im übrigen wechseln poetische Chansons mit präzisen Tanznummern, in denen die Konfrontation Puppe-Mensch nicht gescheut wird, oder abstrakten Clownerien. Tahon, der selbst ein exzellenter Entertainer ist, haucht seinen Marotten auch durch seine atemberaubenden Sprechkünste Leben ein, durch Tonfälle in allen Farben und Tonlagen, durchsetzt mit deutschen Brocken oder einem kapriziösen, ungemein ausdrucksvollen Kauderwelsch. Seine Dramaturgie bewegte sich bei all dem mit schlafwandlerischer Sicherheit zwischen Folklore und Striptease.

Im Schattentheater „Wayang Kulit“ aus Malaysia kam in den, nach uralten Vorbildern gefertigten, flachen, mit Bambusstäben geführten Puppen die bildende Kunst zu ihrem Recht. Der Dalang, der Puppenspieler, sitzt dabei hinter einer angestrahlten Leinwand, zieht mit sicherem Griff die jeweils benötigten Puppen und Dekorationen aus einem ganzen Büschel heraus, drückt sie gegen die Leinwand und bewegt in den Dialogen ihre Arme und Münder. Er läßt aber die Helden nicht nur geheimnisvoll aus dem Raum heranschweben, markiert nicht nur ihre mühevollen, von charakteristischer kriegerischer Musik untermalten ‘ Wege, sondern spricht auch äußerst differenziert sämtliche Stimmen. Die Texte und Handlungen sind dem 2000 Jahre alten Hindu- Epos „Ramayana“ entnommen, was auf den indischen Ursprung des über Kambodscha nach Thailand gelangten Schattenspiele schließen läßt. Der kultische Ursprung wird nicht verleugnet, wenngleich man heute zur Unterhaltung spielt. Die Schattenspiele enden jedoch nie, sollen sie doch die Unsterblichkeit der Helden aufzeigen und dem Gedanken der Wiedergeburt zum Durchbruch verhelfen.

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