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Wie man sich Märtyrer schafft

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Am Freitag, 13. Juli, wird vor einem Militärgericht in Warschau ein Prozeß beginnen, der dem Image des polnischen Regimes im In- und Ausland großen Schaden zufügen und Märtyrer schaffen könnte: Den vier Gründern des oppositionellen „Komitees zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung" (KOR) drohen ein Blitzverfahren und schwere Haftstrafen bis zu zehn Jahren.

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Am Freitag, 13. Juli, wird vor einem Militärgericht in Warschau ein Prozeß beginnen, der dem Image des polnischen Regimes im In- und Ausland großen Schaden zufügen und Märtyrer schaffen könnte: Den vier Gründern des oppositionellen „Komitees zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung" (KOR) drohen ein Blitzverfahren und schwere Haftstrafen bis zu zehn Jahren.

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Die Anklageschrift umfaßt 45 Seiten und stützt sich auf Unterlagen, die mehr als 20 Bände umfassen. Beides zusammen ist — nebenbei bemerkt — ein einzigartiges und auch zeitgeschichtlich bedeutendes Dokument über fast 20 Jahre polnischer Nachkriegsgeschichte. Einer der Angeklagten, Jacek Kuron, mischt ja seit dem polnischen Oktober von 1956 in der Politik mit.

In der seit 1977 laufenden Voruntersuchung, die am 27. September 1983 endlich abgeschlossen wurde, werden so gut wie alle Aktivitäten der KOR-Gruppe (sie besteht seit 1976) zusammengefaßt. Minuziös und akribisch werden alle ihre Urteile und Äußerungen kompiliert.

Angefügt ist eine fast lückenlose Biographie der publizistischen Tätigkeit der vier Angeklagten:

Bücher, Aufrufe, Vorträge, Flugzettel, Artikel aus der westlichen Presse und alle Interviews, die die KOR-Gruppenmitglieder je gewährt haben, sowie alle Publikationen in — laut Anklageschrift — „sogenannten unabhängigen, das heißt, der Zensur entzogenen Verlagen".

Die Anklageschrift wirft Jacek Kuron, Adam Michnik, Zbigniew Romaszewski und Henryk Wujec vor, „Aktivitäten" mit dem Ziel gesetzt zu haben, „das sozialistische Regime in Polen gewaltsam zu stürzen und die Verteidigungsfähigkeit der Volksrepublik Polen durch Bruch des Bündnisses mit der UdSSR zu schwächen"!

Die Anklage sieht darin einen Verstoß gegen die Artikel 123 und 128 des Strafgesetzbuches, der festhält, daß jedermann, der „die Zerstörung der Unabhängigkeit, die Abtrennung eines Teiles des Territoriums, den gewaltsamen Umsturz der Gesellschaftsordnung der Volksrepublik Polen oder die Schwächung der Verteidigungskraft des Verteidigungspotentials der Volksrepublik anstrebt", Freiheitsstrafen von mindestens fünf Jahren bis zur Todesstrafe unterliegt.

Im Artikel 128 werden die Vorbereitungen zu den im Artikel 123 genannten Straftaten mit Freiheitsentzug von einem bis zu zehn Jahren bedroht.

Die Anklageschrift, in die der Verfasser bei einem Rechtsanwalt in Warschau Einsicht nehmen konnte, enthält allerdings auch Vorwürfe, die relativ schwach klingen: Ausarbeitung von Grundsatzdokumenten für die unabhängige Arbeiterbewegung wird den KOR-Angeklagten ebenso zur Last gelegt wie die Bildung von „fliegenden Universitäten" (also offiziell nicht genehmigten wissenschaftlichen und künstlerischen Fortbildungskursen), das Sammeln von Geldern für die Verteidigung von angeklagten Arbeitern und Intellektuellen, Aufklärung über die Staats- und Bürgerrechte usw.

Vollends zum Lob - in den Augen eines westlichen Demokraten und wohl auch der Mehrheit der polnischen Bürger - geraten andere Punkte der Anklageschrift:

Den vier KOR-Exponenten wird vorgeworfen, mit der Gründung ihrer Organisation hätten sie „gegen die Repression aus Gründen der Politik, der Meinung, der Konfession und der Rasse" auftreten und „den aus diesen Gründen Verfolgten helfen wollen". Ihr langfristiges Ziel sei die „bürgerlich-parlamentarische Demokratie" gewesen, „gestützt auf eine breite Entwicklung einer von Staat und Partei unabhängigen Selbstverwaltungsbewegung".

KOR, so die Anklageschrift in unfreiwilliger Selbstentlarvung weiter, habe seine Beschlüsse immer erst „unter Mitwirkung aller Mitglieder, nach Diskussion und Abstimmung" gefaßt. Seit 1979 hätten die Angeklagten „das Recht auf Bildung unabhängiger Gewerkschaften und das Streikrecht" gefordert.

Um diese mehr als zweifelhaften „Vorwürfe" zu untermauern und auf eine solidere Grundlage zu stellen, heißt es in der Anklageschrift: Die KOR-Mitglieder hätten oft „Ironie und Paradoxe verwendet", sich den „Anschein von Wahrheit und Bildung" gegeben — und seien überdies gegenüber Vertretern des polnischen Staates und befreundeter Staaten verbal „arrogant und respektlos" aufgetreten. Im Klartext heißt das: Majestätsbeleidigung.

Ein Eingeständnis, wie schwach in Wahrheit das Anklagegebäude ist, enthüllt ein weiterer Passus: „Die Beschuldigten verfolgten ursprünglich die Tarnung ihrer wirklichen Ziele mit Hilfe von Behauptungen und Losungen, deren äußere Form in keinen Zusammenhang mit den rechtlich verbotenen oder verbrecherischen Aktivitäten gebracht werden konnte."

Schlußendlich wird den Angeklagten auch noch vorgeworfen, mit „fremden Diversionszentren" in Verbindung gestanden zu haben.

Im Lichte dieser Anklageschrift, die am 13. Juli dieses Jahres verlesen werden wird, gewinnen die zahllosen Bemühungen, den Prozeß womöglich zu vermeiden, und auch das Scheitern dieser Anstrengungen erst an Tiefenschärfe.

Es gab von Seiten des Regimes zahllose Angebote und Varianten (von der Auswanderung bis zum politischen Stillschweigen), um die vier KOR-Leute loszuwerden und nicht vor Gericht stellen zu müssen. Die Kirche griff vermittelnd ein.

Doch eben weil die vier Angeklagten sich der Schwäche der Anklageschrift bewußt waren, trotzten sie (und vor allem Adam Michnik) einer außergerichtlichen Beilegung. Sie erhoffen sich, daß bei dem Verfahren letztlich das Regime entblößt wird, der Prozeß in eine „Show" gegen die Regierung umfunktioniert werden kann und ihre Verurteilung letztlich einen moralischen Sieg darstellt.

Diese Hoffnungen werden sich nur teilweise erfüllen. Das Verfahren vor dem Militärgericht wird unter Ausschluß jeder Öffentlichkeit stattfinden und blitzschnell abgewickelt werden. Kein „Propaganda-Effekt" für die KOR-Angeklagten ist zu erwarten.

Der „moralische Sieg" wird ihnen dennoch nicht zu nehmen sein — das Urteil beschämt und erniedrigt das Regime, nicht die Verurteilten. Sie werden „Märtyrer" sein und sich als solche fühlen.

Aber, nüchtern betrachtet: Polen braucht keine neuen Märtyrer, keine neuen Häftlinge.

Oder um es mit dem Primas der katholischen Kirche Polens, Kardinal Josef Glemp, zu sagen: „Für ein so armes Land wie Polen haben wir zu viele Märtyrer, zu viele Gefangene. Wir brauchen keine Gefangenen."

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