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Zahnschmerzen

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Wer noch nie Zahnschmerzen gehabt hat, kann darüber nicht mitreden. Er hat vielleicht irgendeinmal an Schmerzen am Knie oder im Bauch gelitten und hält Zahnweh nun für ähnliches, nur eben im Raum der Mundhöhle. Damit ist er aber dermaßen auf dem Holzweg, wie man nur auf dem Holzweg sein kann.

Dieses alles beherrschende Ziehen, Stechen, Hämmern entzieht sich völlig jeder Beschreibung, und außer einem guten Zahnarzt gibt es nichts dagegen, die Pharmaindustrie möge mir verzeihen. Auch Hausmittel versagen kläglich, wenngleich man als Leidtragender bereit ist, deren tollste durchzuprobieren, vom Eisbeutel über glühendheiße Wärmeflaschen bis zum neunzigprozenti-gen Alkohol.

Ich weiß, wovon ich rede, ich hatte sie unlängst an einem Wochenende, der Dentist meines Vertrauens war unerreichbar, der Montag fern wie Saturn. Dem Wahnsinn nahe, unansprechbar, zu keiner vernünftigen Handlung fähig, den ganzen Körper samt Geist einer einzigen vermutlich millimetergroßen Stelle im Kiefer unterliegen fühlend, hatte ich plötzlich Gesichte. In jener Lage, in der von heroischem Zähnezu-sammenbeißen keine Rede sein konnte, stellte ich mir sogenannte Helden der Weltgeschichte vor, wenn sie, ob sie und wie sie Zahnweh hatten, und ich fand darin eine Zahn-Lücke in der Uberlieferung, denn außer heiteren Sketchesund Gedichtchen oder humorig sein sollenden Darstellungen kennt man kaum Historisches darüber.

Siegfried, Odysseus, Herkules -hatten sie jemals Zahnschmerzen, und wenn ja, wie reagierten sie? Blieben sie heldenhaft? Weiß man diesbezügliches über Karl den Großen? Dschingis Khan? Cleopatra? Katharina die Große? Napoleon? Stalin? Und noch näher liegend: Wie ist oder war das mit Clark Gable? Mit Marlon Bran-do? Mit Errol Flynn, John Wayne, Willy Birgel? Ich stellte sie mir vor: fechtend, reitend, siegend, und da — plötzlich von einem bohrenden Schmerz im Sechser links oben durchzuckt: wie stand's da um die Gewinnermiene? In heißer Umarmung, im innigen Kuß von allen Plomben im Weisheitszahn verlassen, wie blickt da Robert Redford? In berauschender Pose von Nadelstichen an den Hälsen der unteren Schneidezähne durchsiebt, wie klimpert da Sophia Loren mit den aufgesetzten Wimpern? Elizabeth' Taylor? Jane Fonda? Fallen sie von den Pferden? Aus den Betten? Uber die Theken? Zertrümmern sie die Kameras? Ohrfeigen sie den Regisseur? Brüllen sie wie ungemol-kene Kühe?

Wie lustig ist Dich* Hallervorden noch, wenn die Wurzel des rechten unteren Eckzahns unerwartet, aber heftig grüßen läßt?

Ich ließ sie, es war Sonntagnachmittag, Revue passieren. Filmschauspieler, Burgmimen, Politiker, Industriebosse, Heurigensänger, Rennfahrer, Turniertänzer, Preisboxer, Schönheitsköniginnen, Fernsehsprecher, Dirigenten, Liedermacher, alle gerade in voller Aktion und plötzlichem Zahnweh ausgesetzt.

Nein, ich wünschte es keinem. Es war bloße Phantasie, ein Spiel in der Verzweiflung des Schmerzes, eine Vorstellung auf dem Theater des geistigen Auges.

Es waren Niederlagen, die sich vor meiner Imagination abspielten, menschliche Dramen, Zusammenbrüche von Idolen angesichts eines zum Toben gebrachten Nervs in den Beißwerkzeugen, es war das Unterliegen jeglicher Faszination von Macht, Schönheit, Charme und Routine.

Aus den Bahnen geworfen lagen sie niedergeschmettert vor meiner Netzhaut, vorbei der Traum von Überlegenheit.

Ich half mir so über die Stunden, in denen sich Amoklaufen als einziger Zeitvertreib anbot, bis der Schlaf siegte. Da träumte ich von Anneliese Rothenberger, die im Zahnarztstuhl ganz anders aussah, als ich sie vom Bildschirm kannte.

Dann war Montag, und mein Zahnarzt nahm mich dran. Langsam legt sich die Erinnerung an dieses schmerzhafte Wochenende zu den anderen. Aber die Glorie so mancher Leitbilder ist nicht einmal mehr erhobenen Hauptes beim Gurgeln wiederzufinden.

PS: Keine zweihundert Meter von den Redaktionsräumen der FURCHE entfernt, an der Außenseite des Stephansdomes, gibt es seit dem Mittelalter den von den Wienern so genannten und verehrten Zahnwehherrgott. Die frischen Blumen in der Vase vor der Figur sind von mir.

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