Debatten voller Doppelmoral

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Was in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Ereignisse der Kölner Silvesternacht ans Licht gebracht werden muss. Ein Gastkommentar.

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Was in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Ereignisse der Kölner Silvesternacht ans Licht gebracht werden muss. Ein Gastkommentar.

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Eigentlich ist es ganz einfach: die Menschenwürde gebietet es, Menschen per se zu achten und als solche zu behandeln. Die Menschenrechte formulieren Rechtsansprüche, die sich aus dieser Menschenwürde ergeben. Gesetze zum Schutze der Integrität von Menschen und ihrer Rechte machen es strafbar, wenn jemand verletzt oder gar ermordet, bestohlen, sexuell genötigt oder gar missbraucht wird. Soweit, so klar.

Einfach und klar, wo der Blick auf die Tatsachen unverstellt ist, wo genau hingeschaut wird und der Mensch als Mensch gilt. Schwierig, wo dem nicht so ist, wo Vorurteile, Projektionen, opportune Selektivität in der Wahrnehmung den Blick auf die Tatsachen verschleiern oder gar nicht erst erlauben, wo zwischen Mensch und Mensch unterschieden wird.

Selektivität in der Wahrnehmung

Der Umgang mit dem "Kölner Silvesterereignis" in Politik und Medien ist ein anschauliches Beispiel dafür. Mehrere hundert Frauen haben bei der Polizei Anzeige erstattet, weil sie ihren Angaben zufolge von Männern auf dem Platz vor dem Kölner Bahnhof in der Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Jänner sexuell genötigt und/oder beraubt wurden. Soweit noch klar und gut: Frauen haben von ihrem Recht Gebrauch gemacht, sich gegen (sexualisierte) Gewalt zu wehren und dürfen davon ausgehen, dass die Täter identifiziert und bestraft werden. Allein: wer sind diese Täter? Hier beginnt es schwierig zu werden: Was geschehen ist, ist geschehen zu einem Zeitpunkt, da in Deutschland der Zustrom von rund einer Million Flüchtlingen innerhalb eines Jahres - das in der betreffenden Silvesternacht gerade zu Ende gegangen ist - eine gesellschaftliche Zerreißprobe zu provozieren scheint, da gewaltsame Übergriffe auf Asylunterkünfte und den Menschen darin sich häufen. Politik und Medien überschlagen sich in der Erfassung, der Benennung und Deutung der Täter, Begriffe und Zahlen wirbeln wild durcheinander: "1000","400", "Nordafrikaner", "Araber", "Ausländer", "Flüchtlinge", "Migranten", "Asylwerber", "organisierte Kriminelle". SPD-Parteivorsitzender und Vizekanzler Sigmar Gabriel formuliert die Conclusio: "Null Toleranz gegenüber kriminellen Ausländern".

Bis heute sind die genaue Zahl der Täter, deren Identität sowie die Art der einzelnen Straftaten ungeklärt. Am 9. Jänner war in den Medien von 31 Tatverdächtigen die Rede, 18 davon Asylwerber, keiner davon eines Sexualdelikts beschuldigt.

(Sexualisierte) Gewalt gegen Frauen ist grundsätzlich noch immer ein Tabu. Jede fünfte Frau in Österreich, jede dritte europaweit ist nach Angaben der European Union Agency for Fundamental Rights (Berichtsjahr 2014) Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt, weit überwiegend geht diese Gewalt von Personen im nächsten, persönlichen, vertrauten Umfeld aus: von Freunden, Verwandten, Vätern. Wo bleibt der Aufschrei von Politik und Medien, wenn derlei Berichte veröffentlicht werden? Wer benennt und deutet öffentlich, formuliert die Conclusio: "Null Toleranz gegenüber kriminellen Onkeln"?

Frauenhäuser sind nötiger denn je

Es fällt schwer, Menschen aus dem vertrauten Umfeld anzuprangern, anzuzeigen, die "doppelte Viktimisierung", die betroffene Frauen immer noch erleben, wenn sie im Krankenhaus, bei der Polizei oder bei Gericht von ungeschultem Personal lächerlich oder unglaubwürdig gemacht werden, trägt das Ihre zur Verdunkelung der wahren Verhältnisse bei. Frauenberatungsstellen, Frauenhäuser, wie sie in Österreich die Katholische Frauenbewegung in den 1980er-Jahren mit ins Leben gerufen hat, sind nötiger denn je.

Sie sind nötiger denn je, um ans Licht zu bringen, was tagtäglich geschieht, um der Doppelmoral entgegenzutreten, mit der öffentliche Debatten wie die um die Kölner Ereignisse geführt werden, die öffentliche Empörung zu relativieren und zu entlarven, woraus sie auch gespeist ist: aus Vorurteilen, Projektionen und Ablehnung gegenüber Fremden, ob nun "Nordafrikaner", "Araber","Ausländer","Flüchtlinge","Migranten" oder "Asylwerber" .

In der Debatte um das "Kölner Silvesterereignis" ist der Blick auf die Tatsachen verstellt, die Debatte um "Gewalt gegen Frauen" wird Vehikel für die Austragung der Konflikte im Umgang mit Zuwanderern. "Ausländer","Flüchtlinge","Asylanten" scheinen Menschen minderer Kategorie zu sein, wenn es um ein mögliches Fehlverhalten geht. "Null Toleranz gegenüber kriminellen Ausländern" - versus "ein bisschen Toleranz gegenüber kriminellen Inländern"? Was ist die Botschaft von derlei Aussagen? Schafft der Status der Gebürtigkeit mehr oder weniger Rechtsanspruch? Und welches Maß wird angelegt, wenn die Abschiebung einer Person Thema sein kann, die aufgenommen wurde, weil sie Asyl braucht, weil sie Krieg und Terror entflohen ist? Die in der öffentlichen Anschauung plötzlich vom berechtigten Asylwerber zum bloß geduldeten Gast wird?

Ängste werden geschürt

Die öffentliche Rede über das, was sich in der Silvesternacht in Köln ereignet hat, war und ist dazu angetan, Ängste zu schüren. Das Wort von der "Horde", das der deutsche Bundesjustizminister Heiko Maas im Munde führte, beschwört archaische Bedrohungsszenarien, die ihre Wirkung entfalten. In Wien ist der Verkauf von Pfeffersprays sprunghaft angestiegen. Gleichzeitig ist im Lauf der vergangenen Monate, in denen mehr als 300.000 Flüchtlinge Österreich passiert haben und 90.000 im Land geblieben sind, kein einziger Fall eines sexuellen Übergriffs durch einen Asylwerber auf eine österreichische Frau bekannt geworden. Behauptungen, dass Asylwerber(innen) reihenweise Ladendiebstähle begingen, wurden von der Polizei entkräftet, der Chefredakteur der Steirer Krone musste seinen Dienst quittieren, nachdem er Flüchtlinge nachweislich fälschlich beschuldigt hatte, übergriffig zu sein und Sachbeschädigung zu betreiben.

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten" - alle Menschen können Fehler machen, alle sollen dafür grade stehen, wenn das passiert. Männer wie Frauen, Ausländer(inne)n wie Inländer(inne)n. Unser Blick auf die Tatsachen sei dabei ein unverstellter, unsere Rede wahrhaftig, unser Urteil gerecht. Haben wir das in Kopf und Herz, wenn wir den Herausforderungen dieser bewegten Zeit entgegentreten - in christlicher Nächstenliebe, die sicher nicht "Charity" ist und sicher nicht bei irgendjemandem ("Österreich zuerst") "anfängt", um woanders (beim Fremden?) zu enden.

Die Autorin ist Vorsitzende der Katholischen Frauenbewegung Österreichs

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