Jüdisches Kind - © Foto: Getty Images / Popperfoto

Restitution: Willkommen, Enkel Tennenbaum!

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Seit voriger Woche können im Ausland lebende Kinder, Enkel, Urenkel von NS-Opfern mit einer Anzeige die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Eine späte Wiedergutmachung zur richtigen Zeit.

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Seit voriger Woche können im Ausland lebende Kinder, Enkel, Urenkel von NS-Opfern mit einer Anzeige die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Eine späte Wiedergutmachung zur richtigen Zeit.

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In „Der Herr Karl“ von Helmut Qualtinger und Carl Merz heißt der die NS-Zeit überlebende, 1945 aus dem Konzentrationslager oder erzwungenen Exil nach Österreich, nach Wien heimkommende Jude Tennenbaum. „Nochn Kriag is er zurückgekommen. Der Tennenbaum“, sagt der Herr Karl im Stück und erzählt völlig verständnislos: „Ich grüße ihn. Er schaut mich net an. Hab i ma denkt: na bitte, jetzt is er bös, der Tennenbaum.“ Er war nicht bös, der Tennenbaum, sie waren nicht bös, die jüdischen Österreicherinnen und Österreicher, die nach der Befreiung ihrer Heimat nach Hause zurückgekehrt sind.

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Sie haben nur die Niedertracht, die Verfolgung, die „Hetz“, wie der Herr Karl sagt, die sich er und seinesgleichen nach dem März 1938 mit dem jüdischen Nachbarn geleistet haben, nicht vergessen. Und: „Sie wollten ein freies, ein demokratisches Öster reich aufbauen“, sagt Hannah Lessing, Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, im Gespräch mit der FURCHE. „Aber sie waren nicht willkommen. Vielen ist es passiert, dass sie an ihrer alten Wohnungstür angeläutet haben, die neuen Besitzer haben aufgemacht und geschimpft: Was, dich hat der Hitler nicht erwischt!“ Und die Schikanen gingen weiter, und das Nicht-Willkommen ging weiter. Daraufhin haben diese jüdischen Mitbürger beschlossen, dass sie weggehen, das Land, ihre Heimat verlassen. Offiziell sind sie freiwillig gegangen, aber sie wussten es, und Österreich wusste es, dass das eine erzwungene Freiwilligkeit war.

Nachkriegszeit berücksichtigt

Mit der seit 1. September geltenden Neuregelung des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes wird auch diesen Menschen und ihren Nachkommen ihr Recht auf Österreicher-Sein zugesprochen. „Das ist keine große Gruppe“, sagt Lessing, „aber es ist symbolisch für mich ganz, ganz wichtig, dass diese Menschen und ihre Nachkommen jetzt spätes Recht erfahren und auch die schwierige Situation für die Opfer des NS-Regimes auch in der Nachkriegszeit bis 1955 berücksichtigt wird.“

Vielen NS-Opfern ist passiert, dass sie an ihrer alten Wohnungstür angeläutet haben, und die neuen Besitzer haben geschimpft: Was, dich hat der Hitler nicht erwischt!

Hannah Lessing

Ermöglicht wurde diese Form der Wiedergutmachung dadurch, dass die im Herbst des Vorjahres im Nationalrat einstimmig beschlossene Novelle des Staatsbürgerschaftsgesetzes die Definition „NS-Opfer“ erweitert hat. Das anerkannte Datum der Ausreise von NS-Opfern wurde auf den 15. Mai 1955 ausgeweitet. Auch Staatsangehörige von Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie sowie Staatenlose werden jetzt als NS-Opfer anerkannt. Außerdem wurden bislang geltende Ungleichbehandlungen – Nachfahren von weiblichen Überlebenden konnten im Unterschied zu Kindern männlicher NS-Opfer keine Staatsbürgerschaft bekommen – abgeschafft.

Den antisemitischen Erlass 1921, der Juden und Jüdinnen aus der ehemaligen Donaumonarchie aus „rassischen“ Gründen die österreichische Staatsbürgerschaft verwehrte, hat man ebenfalls aufgehoben. Mit der neuen Regelung können direkte Nachfahren von NS-Opfern: Kinder, Enkel, Urenkel und Adoptivkinder die österreichische Staatsbürgerschaft durch eine sogenannte Anzeige erhalten. Dafür müssen sie weder ihre bisherige Staatsangehörigkeit aufgeben noch einen Aufenthalt in Österreich vorweisen. 75 Jahre nach Kriegsende ist diese Gesetzesnovelle wichtig und aktuell zugleich: „Es gibt wahnsinnig viel Interesse“, sagt Lessing. Wie viele Anträge letztlich eingereicht werden, ist für die Nationalfonds-Generalsekretärin aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschätzbar. Mit der auch von der britischen Zeitung Guardian kolportierten Zahl von insgesamt „mindestens 200.000“ kann Lessing wenig anfangen: „Ich weiß nicht, ob es so viele überhaupt gibt, das ist noch reine Kaffeesudleserei.“ Ein klares Bild zeigt sich hingegen bei den Ländern, aus denen die meisten Anträge kommen werden. Lessing nennt Israel, Großbritannien und die USA.

Diese Aufzählung wird von einer Sprecherin des Außenministeriums auf Nachfrage der FURCHE bestätigt und noch mit „einige Länder Südamerikas“ ergänzt. Das starke Interesse aus Großbritannien hängt für Lessing mit dem Brexit und der Attraktivität von Reisepässen eines EU-Landes zusammen. In den USA dürfte das Menetekel einer Trump-Wiederwahl die persönliche Ausrichtung nach „good old Europe“ und Österreich verstärken. Für die Anzeige um Staatsbürgerschaft ist ein auf Deutsch, Englisch, Hebräisch und Spanisch abrufbarer Online-Fragebogen mit Angaben zu den Vorfahren auszufüllen. Rund 5000 davon sind laut Auskunft des Außenministeriums bis dato eingelangt. Die Angaben sollen es den österreichischen Behörden, insbesondere dem Nationalfonds, ermöglichen, in historischen Akten und Archivbeständen Recherchen anzustellen. Das eigentliche Anzeigeverfahren wird anschließend mit der Einreichung eines Anzeigenformulars, das mit den Angaben aus dem Online-Fragebogen vorausgefüllt wurde, sowie weiterer notwendiger Dokumente eingeleitet. Eingereicht werden können die Anzeigen bei der Wiener Magistratsabteilung 35 (Einwanderung und Staatsbürgerschaft) oder bei den österreichischen Vertretungsbehörden im Ausland (Botschaften, Generalkonsulate), die die Unterlagen an die MA 35 weiterleiten.

Glauben an Heimat wiedergeben

„Mit der Gesetzesnovelle wurde eine lange Forderung des Nationalfonds umgesetzt“, sagt Lessing, und ihre Freude an diesem Beschluss ist im Gespräch mit ihr nicht zu überhören und berechtigt: Der Nationalfonds kann jetzt sein 25 Jahre lang gespanntes Netzwerk mit NS-Opfern und deren Nachkommen in über 80 Ländern der Welt nützen und die Antragsteller bei der Erlangung der Staatsbürgerschaft als Sachverständige und mit Dokumenten unterstützen. „Wer ein Menschenleben rettet, rettet eine Welt“, zitiert Lessing den bekannten Talmud-Spruch in ihrer Übersetzung und sagt daran anschließend über die Arbeit des Nationalfonds: „Ich habe – etwas naiv gesagt – vor 25 Jahren gedacht, die Welt retten zu können.

Das ist mir nicht gelungen. Was uns aber vielleicht gelungen ist: den Menschen den Glauben an ihre Heimat wiederzugeben und damit einige kleine Welten gerettet zu haben.“ Dass in der kleinen und mitunter kleingeistigen österreichischen Welt diese Gesetzesnovelle auch Missgunst auslösen kann, mag Lessing nicht ausschließen: „Ganz sicher wird es einzelne Personen geben, die sagen: Was holt man sich da für Leute ins Land? Was für Rechte, was für Sozialleistungen bekommen die? Aber da hat sich viel getan in der öffentlichen Meinung. Da bin ich ziemlich zufrieden mit der Entwicklung.“ Und wenn man sich „Der Herr Karl“ anschaut, dann stimmt man Generalsekretärin Lessing gerne zu: Es hat sich was getan in Österreich. Die Kinder und Enkel Tennenbaum sind heute willkommen in Österreich.

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