judenplatz - © Wikimedia  -   Mahnmal für die österreichischen Opfer der Schoa am Wiener Judenplatz

Rudolf Burgers Vergessens-Ideologie: In die Gosse des Zeitgeistes

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Rudolf Burger zettelte eine Debatte an, um das Vergessen zur Maxime zu erheben. Christen - und nicht nur sie - sollten dem Wiener Propheten des Vergessens deutlich widersprechen.

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Rudolf Burger zettelte eine Debatte an, um das Vergessen zur Maxime zu erheben. Christen - und nicht nur sie - sollten dem Wiener Propheten des Vergessens deutlich widersprechen.

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Es sind schon ein paar Monate ins Land gegangen, seit die intellektuelle Öffentlichkeit kurz erregt war über Norman Finkelsteins Polemik-Bestseller "Die Holocaust-Industrie", der die verquere wie empörende These von der jüdischen Weltverschwörung, welche mittels der Holocaust-Vorwurfskeule aus europäischen Ländern Geld en masse herauspressen würde, verbreitete. Einer schrieb damals am Ende seiner Rezension über das Finkelstein-Buch (im Spectrum der Presse), er habe nicht den Mut, "Finkelsteins Schrift [...] zu loben". Seine Courage, so Rudolf Burger, reiche gerade noch für die Empfehlung, sie zu lesen.

Paul Jandl charakterisierte diesen Rudolf Burger Ende Februar in der Neuen Zürcher Zeitung durchaus wohlmeinend als "Philosophen der österreichischen ,Wende'"; als philosophischer Wendehals - ganz und gar nicht wohlmeinend hingegen - gilt der Staatspreisträger für Kulturpublizistik 2000 in nicht wenigen intellektuellen Zirkeln.

Ist der Ruf einmal ruiniert ...: Anfang Juni war Rudolf Burgers Mut größer als im Februar, und er modelte die Finkelstein-Thesen für seine Zwecke um, indem er das jüdische Weltverschwörungsklimbim des amerikanischen Polemikers beiseite ließ, dessen Denunziation des Gedenkens und der Erinnerung an die Schoa aber nahtlos in seinen Essay "Irrtümer der Gedenkpolitik" übergehen ließ.

Das Original des Essays erschien in Paul Lendvais Quartalsschrift Europäische Rundschau (mit dem Hinweis, dass Burgers Beitrag "ausdrücklich zur Diskussion" gestellt werde), zeitgleich fand sich eine Kurzfassung im Standard. Die Debatte, die sich nun entzündete, war durchaus heftig: Die Neue Zürcher Zeitung blieb nicht mehr nobel, Michael Meyer qualifizierte Burger dort als "Verächter des Erinnerns" und warf des Wiener Philosophieprofessors Essay vor, "in Stil und Ton recht unerträglich" und "im Denken wohl dummdreist" zu sein. Mehr oder weniger ähnlich äußerten sich andere Kontrahenten, die Zustimmung zu Burgers Thesen hielt sich - von Peter Huemer (im Standard: "Die Republik wäre - gerade heute - gut beraten, nicht auf Rudolf Burger zu hören") bis zu Antonio Fian (ebenda: "Um späterem Vergessenmüssen nachhaltig vorzubeugen, empfehle ich, die Schriften des Philosophen Rudolf Burger rechtzeitig nicht wahrzunehmen.") in Grenzen; auch Guido Tartarotti ließ zuletzt im Kurier kein gutes Haar an Burgers Auslassungen ("Sein Essay unterscheidet sich vom Stammtisch-Grölen (,Amoi muass a Ruah sein') nur durch die Verwendung des Wortes Apotropaion."). Fritz Molden, Verleger und Exwiderständler, hingegen gab Burger via Format Recht, positiv argumentierte dort auch Konrad Paul Liessmann; und dass FP-Ideologe Lothar Höbelt sich im Presse-Gastkommentar zustimmend äußern würde, war zu erwarten gewesen.

Das elfte Gebot

Rudolf Burger plädiert in seinem Essay auf mehreren Ebenen, er kommt aber bei der Hauptthese an, dass das Vergessenkönnen die moralische Leistung sei. Dem entgegen setzt er den archaischen Mythos, der ein "genealogischer Schuld/Opfer-Zusammenhang sei", dessen Weitererzählen ein "kollektives Gedächtnis" schaffe, "welches das Unheil fortwälzt". Burger geizt nicht mit historischen Beispielen, etwa dem Westfälischen Frieden, durch den der 30-jährige Krieg beendet wurde: Dort verpflichteten sich alle Seiten zu "ewigem" Vergessen.

Die Parole "Niemals vergessen!", die Burger als "Pathos des elften Gebotes nach 1945" verunglimpft, sei keine Friedensformel, sondern eine Kampfparole: "Real ist die Nazizeit so versunken wie Karthago, das mumifizierende Gedenken verzaubert sie zum Mythos." Und diesem Mythos gelte es, folgt man Burger, den Garaus zu machen: "Die Beschwörung der monströsen Verbrechen der Nazis hat heute [...] weder eine kathartische Funktion noch die Wirkung eines Apotropaion (= Zaubermittel, das Unheil abwehren soll, Anm.), vielmehr macht sie aus dem Gebannten ein morbides Faszinosum."

Dass mit dem Missbrauch des Gedenkens gleich das ganze Bad der Erinnerung in die Gosse des Zeitgeistes ausgeschüttet wird, sollte man nicht hinnehmen.

Was da in der Geschraubtheit der Burger-Sprache umschrieben ist, und wogegen er auch in anderen Teilen des Essays argumentiert, ist die fatale Faszination der Erinnerung an furchtbare Zeit, der etwa Neonazis erliegen. Diese Phänomene gibt es zweifellos, und darüber ist nachzudenken. Auch dass es sich bei mancher Ausprägung von "Gedenken" um ein Geschäft beziehungsweise um politisches Kleingeld handelt, war schon vor Rudolf Burger längst bekannt. Der Auseinandersetzung mit diesen Fragwürdigkeiten soll nicht ausgewichen werden.

Doch dass mit dem Missbrauch des Gedenkens gleich das ganze Bad der Erinnerung in die Gosse des Zeitgeistes ausgeschüttet wird, sollte man nicht hinnehmen. Abgesehen davon, dass mindestens einige der von Burger zugezogenen historischen Vergleiche ordentlich hinken (etwa: nach dem 30-jährigen Krieg, der mit dem im Westfälischen Frieden gelobten ewigen Vergessen beendet wurde, standen einander eben nicht ein industriell mordendes System und ein dadurch millionenfach dezimiertes Volk gegenüber), verblüfft die Kaltschnäuzigkeit, mit der Burger das Vergessen zur moralischen Maxime erhebt.

Keine Rede davon, dass Vergessen etwas mit Vergeben zu tun hätte. Keine Rede, dass Vergessen und Nicht-Erinnern keineswegs dasselbe sind, dass also Erinnerung und Vergessen durchaus nebeneinander existieren. Der Zeithistoriker Siegfried Mattl bemühte im Falter dazu den französischen Philosophen Paul Ricœur: Aktives Vergessen heiße demnach Verzeihen und sei das absolute Gegenteil des Übereinkommens, nicht mehr von der Vergangenheit zu reden.

Ob Burger diese Dimension mit gemeint hat, kann anhand seiner Argumentation nicht sicher bestimmt werden. Sicher hingegen ist beim Agnostiker/Atheisten Burger die Verneinung einer religiösen Dimension, die dem Erinnern positiv zukäme. Der Kulturphilosoph Wolfgang Müller-Funk wies in seinem Standard-Beitrag zur Burger-Debatte darauf hin, dass das "Pathos des Erinnerns einen unerlässlichen Bestandteil traditioneller jüdischer Kultur" darstelle.

Nicht "Kultur" möchte man dazu einwenden, sondern "Religion": Unter den Widerständlern gegen einen "Vergessenseuphoriker" (© W. Müller-Funk) wie Rudolf Burger gibt es kaum religiöse Argumentation. Doch gerade diese sollte hörbar sein. Nicht nur jüdische, sondern auch christliche.

Was die schweigsamen Christen nach 1945 mühsam erlernten und zu einer "Theologie nach Auschwitz" entwickelten, ist die Wiederentdeckung der geschichtlichen Erinnerung - eine Gemeinsamkeit, die sie mit den Juden verbindet. Und das Gedächtnis, das Christen jeden Gottesdienst zelebrieren, zeigt, dass für sie Erinnerung konstitutiv ist - und Voraussetzung für Versöhnung.

Rudolf Burger denunziert den Mythos als Transporteur der Erinnerung an die Gewalt, die wegen dieser Erinnerung niemals enden wird. Eine Religion mit jüdischer Wurzel - also auch das Christentum - lebt aber mit kollektivem Gedächtnis und weiß jedenfalls seit der Schoa, welche Grenzen Menschen zu überschreiten imstande sind: Gerade das dient der Orientierung in unübersichtlicher Zeit.

Rituale des Gedenkens

Eine säkulare Gesellschaft, das zeigt die beschriebene Debatte, entschlägt sich der Diskussion um religiöse Implikationen (deswegen hätten sich gerade Christen einzumischen). Im nachchristlichen Zeitalter Europas weiß man schon zu wenig über die Rituale und das Sakrale des gemeinsamen Gedächtnisses. Vielleicht blendet deshalb ein Zeitgeistdenker wie Rudolf Burger dies vollkommen aus.

Das Schweigen und/oder die Kommunikation mit dem Heiligen wären Dimensionen, die religiöse Zeitgenossen dem Erinnerungsverweigerer entgegenhalten könnten. Religion, wo es sie hierzulande noch authentisch gibt, wäre der erste Kulturträger des Gedenkens - und nicht die säkularen Staatsliturgien, zu denen offiziell die Erinnerung oft genug verkommt. Diese Dimension lebt auch von Zeichen und (Mahn-)Malen, wie etwa Rachel Whitereads "umgedrehter" Bibliothek auf dem Wiener Judenplatz: ein guter Ort der Erinnerung.

Und es sind Zeiten und Rituale zur "Reinigung des Gedächtnisses" nötig. Trotz der aktuellen Schwäche institutioneller Religion: Wie wäre es, wenn die Kirchen und Religionen des Landes einen Tag der Erinnerung proklamierten - etwa den 9. November, den Jahrestag der Novemberpogrome 1938, mit denen die Schoa begann?

Zeitschrift

Europäische Rundschau

Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte
2001/2.
Verlag Herold, Wien,
152 Seiten, öS 90,-/€ 6,54

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