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„Zeitenwende und Kirche“

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Am 9. November 1945 hielt der Theologieprofessor DDr. Karl E d e r im Festsaal des Linzer Rathauses einen Vortrag, der in seiner Bedeutung den Rahmen des Gewöhnlichen übersteigt und daher auf Wunsch der Hörerschaft in Form eines Heftes von 18 Seiten (Linz an der Donau, 1946, Verlag Muck) herausgegeben wurde. Der Vortrag in seiner gedrängten Kürze und in seiner schlagend geprägten Sprache könnte den Vorwurf geben für eine großangelegte Geschichtstheologie unserer Zeit. — Im ersten Teil legt der Verfasser Sinn und Inhalt der „Zeitenwende“ dar. Sie ist der Umbrudi der Gesamtverhältnisse, wodurch nicht ein neues Blatt, son-

dem ein neuer Band in der Geschichte nach Christus beginnt.. Ein solcher Gesamtumbruch aller Lebensverhältnisse erfolgte nach Christus zweimal, von der Antike zum Mittelalter und vom Mittelalter zur Neuzeit. Also die gebräuchliche Auffassung. Hervorgehoben zu werden verdient der Begriff der „Grenzzone“, die zwischen den einzelnen Zeiten liegt. Der Übergang der Antike ins Mittelalter beanspruchte 200 Jahre. Wird die Grenzzone zur neuen Zeit, in der wir heute leben, auch solange dauern? Kaum, denn das Tempo der Geschichte hat sich beschleunigt. Wenn wir den Beginn unserer Zeitenwende mit dem ersten Weltkrieg ansetzen, so kämen wir bis in die ersten Jahrzehnte nach 2000, bis sich die Lebensformen der neuen Zeit klar ausgeprägt haben. Bis dahin würde es große, zum Teil katastrophale Veränderungen geben und stete Unruhe und Unsicherheit der Lebensverhältnisse. Es werden noch weiterhin geistige Hohlräume einstürzen, bis der Neubau von Staat und Gesellschaft vollendet ist.

In dieser schicksalsschweren Stunde der Geschichte verkündet der Verfasser Aufgabe und Sendung der Kirche in der Zeitenwende;

zunächst die allgemeine, ewig gültige Sendung, von ihrem mystischen Leben, das nur im Glauben erfaßt werden kann, weswegen die Begegnung mit der Kirdie immer „Ungewißheit und Wagnis“ bedeute; dann spricht er von den äußeren Erscheinungsformen der Kirche, die sich ändern, und kommt im dritten Teil des Vortrages auf die besondere Sendung der Kirche in dieser Stundeder Geschichte zu sprechen. Aus ihrem tiefsten Wesen heraus ist die Kirche berufen und befähigt, die neue Zeit zu bauen. Sie gibt dem im Zusammenbruch bodenlos versinkenden Menschen die Antwort des ewig bleibenden Gottes und seines Christus. Sie allein kann in dieser „wahren Hiobsituation der Menschheit“ trösten und heilen. Kraft ihrer Auffassung vom Menschen als Ebenbild Gottes kann sie die Völker zu einem echten Humanismus führen, der aufgebaut ist auf der Ehrfurcht vor der Menschenwürde und der Gleichheit aller vor Gott. Nur in dieser Art sind die sozialen Probleme lösbar. Eine der bedeutendsten Aufgaben der Kirche hier und heute ist es, aus ihrem innersten Wesen heraus den brutalen Machtstaat zu überwinden, weil sie Gehorsam nicht aus Zwang, sondern aus Gewissen fordert. — Wenn die Kirche auch aus der Tagespolitik ausgeschieden ist, so ist sie kraft ihrer innersten religiösen Sendung in die Welt berufen, die neue Welt wesentlich mitzubauen.

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