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Demarkationslinien i in der Mittelschule

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Die österreichische Mittelschule, einst europaberühmt, 1938 vom Nazismus zerschlagen, ist auch heute noch durch die unglückselige Vierteilung des Landes in ihrem Aufbau und 'besonders in ihrer Einheitlichkeit schwer gehemmt. Wer in diesem Sommer von Wien nach dem Westen fuhr, konnte bemerken, daß die Schulferien in Wien und Niederösterreich vom 29. Juni bis 2. September, in Oberösterreich vom 13. Juli bis 16. September angesetzt waren und in Salzburg noch um eine Woche später begannen, eine Divergenz, die bei etwa notwendigem Schulwechsel jedenfalls ungünstig wirkt. Auch der Vergleich der Schülerausspeisung fällt nicht zugunsten unserer Wiener Mittelschüler aus„ die mit ihrem oft katastrophalen Untergewicht — 38 bis 40 Kilogramm Gewicht sind bei unseren O b e r gymnasiasten mit 15 oder 16 Jahren leider keine Seltenheit — die bedeutend bessere Ausspeisung ihrer westlichen Schulkameraden gar wohl brauchen könnten. Viel schwerer aber als diese Verschiedenheiten fällt die der Lehrpläne ins Gewicht, die einen Übertritt von einer Wiener Mittelschule in eine „westliche“ nahezu unmöglich machen: In Wien und Niederösterreich begannen die Mittelschulen bereits im Juli 1945 wieder, wodurch den Schülern ein reguläres Aufsteigen in die höhere Klasse ermöglicht wurde; im Westen jedoch wurde erst im September-Oktober 1945 mit dem regelmäßigen Unterricht begonnen und die Schüler waren verhalten, das Schuljahr 1944/45 zu repetieren, eine wohlgemeinte Härte, die den Wiener Mittelschulen erspart blieb. Dafür aber wurde Wien und Niederösterreich ein in wenigen Wochen ausgearbeiteter Lehrplan beschieden, der dem Wesen der österreichischen Mittelschule und besonders des Gymnasiums fremd ist und statt der erstrebten Einheit nur neues Chaos bringt. In den westlichen Gymnasien beginnt Latein in der ersten, Griechisch in der dritten Klasse; in Wien und Niederösterreich jedoch Latein in der dritten, Griechisch in der fünften; dafür ist als grundständige Fremdsprache in der ersten Englisch eingesetzt, das in der siebenten Klasse wieder verschwindet oder als „erweiterter Litera-turunterricht'' getarnt, fortgesetzt werden kann. In unseren Realschulen und Realgymnasien ist die zweite lebende Fremdsprache bezirksweise verschieden, so daß in einer Schule Tschechisch, in einer anderen Russisch, in einer dritten Französisch als Obligatgegenstand erscheint; dazu kam in manchen Mädchenmittelschülen das Kurio-sum, daß in der sechsten, ja sogar in der siebenten Klasse mit dem Lateinunterricht begonnen wurde, wovon sich wohl nur der selige Fürst Potemkin einen Erfolg versprechen dürfte.

Fernab von jeder Politik des Tages muß immer wieder festgestellt werden: die österreichische Mittelschule ist keine Sprachschule Methode Toussaint - Langenscheidt, keine Lehranstalt für konversationslexikale Halbbildung, zu der sie der Nazismus herabwürdigen wollte — sondern sie ist, zumal in der Form des Gymnaisums, die Schule des Denkens, der klaren Begriffe und der Humanitas. Hiezu wird vornehmlich der Mensch erzogen, der bereits in frühen Jahren, im besten Lernalter von 10 bis 13 Jahren, in die strenge Zucht der alten Sprachen mit ihren bitteren Wurzeln, aber süßen Früchten genommen wird und durch die Schule der Sophrosyne vor Schlagwort- und Katastrophenpolitik bewahrt bleibt.

Daher sollen die von Österreichern selbst aufgeriditeten Demarkationslinien in unserer Mittelschule ehestens fallen; unsere hartgeprüfte, durch Jahre irregeführte Jugend ist zu gut für neue Experimente; unsere Mittelschule braucht die Einheit nach außen und besonders in ihrer inneren Struktur, damit sie wieder ein österreichischer Aktivposten werde.

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