6630696-1956_35_10.jpg
Digital In Arbeit

Die „Pendler“

Werbung
Werbung
Werbung

Bis in das 18. Jahrhundert hinein waren in der Regel Wohn- und Arbeitsort identisch. Nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in den Handwerksbetrieben war es üblich, daß das Personal im Hause des Arbeitgebers wohnte und sich in dessen Hausordnung einfügte. Die ersten Ansätze für eine Trennung von Wchn-und Arbeitsort zeigten sich bereits in den Manufakturbetrieben des 18. Jahrhunderts, doch hat erst die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts mit ihren weitreichenden wirtschaftlichen, soziologischen und demographischen Folgen auch auf diesem Gebiete einschneidende Veränderungen herbeigeführt; das patriarchalische Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wurde gelöst und die bisherige enge Bindung zwischen Wohn- und Arbeitsort gelockert. Die teils erzwungene (Freisetzung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte durch größere Produktivität), teils freiwillige (Aussicht auf bessere Entlohnung und damit höheren Lebensstandard) Abkehr großer Menschenmassen vom landwirtschaftlichen Beruf hat infolge der damals noch recht geringen Verkehrserschließung zu einer zwangsläufigen Verknüpfung von Berufs- und Wohnortwechsel geführt. Im weiteren Verlauf der Entwicklung ist dank des stetigen Ausbaues des Verkehrsnetzes die Binnenwanderung in erheblichem Maße durch die Pendelwanderung abgelöst worden.

Heute müssen viele Arbeitnehmer — teils taglich, teils in größeren Zeitabständen — von ihrem Wohn- zu ihrem Arbeitsort pendeln; dieser Pendelverkehr spielt sich manchmal über v/eite Entfernungen ab und wirft eine Fülle von Problemen auf. Fragen der Raumordnung, der Wohnungs-, Siedlungs-, Arbeitsmarkt- und Verkehrspolitik, der Standortwahl von Industrien und der Produktivitätssteigerung sind eng mit dem Problem der Pendelwanderung verknüpft. Außer allen diesen wirtschaftlichen Faktoren ist aber auch die menschliche Seite zu berücksichtigen.

Unselbständig Berufstätige, in nebenstehendem Bundesland wohnhaft beschäftigt davon liegt bei... Personen der Arbeitsort

Bundesländer - SDalte insgesamt knßerha,b j4 insgesamt £m der Wohngemeinde

1 “ 2 | 3 4 5. '

Wien 677.438 455.656 12.963 715.872 106

Niederösterreich 378.551 146.194 46.308 347.461 92

Burgenland 55.175 24.789 16.060 40.217 73

Oberösterreich 340.916 85.325 5.146 341.565 100

Salzburg 106.323 18.453 1.734 109.313 103

Steiermark 320.974 73.721 4.922 320.749 100

Kärnten 138.203 39.719 3.482 136.000 98

Tirol 125.911 30.751 2.589 125.249 99

Vorarlberg 73.643 21.079 4.113 71.109 97

Österreich 2,217.133 895.687 — 2,207.535 — Gliederung unselbständig Berufstätiger nach Wohn- und Arbeitsort

Jene Arbeitnehmer z. B., die täglich zu ihrer Atbeitsstätte pendeln, sind infolge der oft recht langen Fahrzeiten großen Strapazen ausgesetzt; daraus ergeben sich schwerwiegende Folgen für ihr Privatleben, können sie sich doch infolge ihrer karg bemessenen Freizeit nur wenig ihrer Familie und ihrem Heim widmen. Diesen negativen Faktoren gegenüber ist anzuführen, daß die Lebensweise auf dem Lande eine verbilligte Lebenshaltung und ein naturnahes, gesundes Wohnen gestattet. Diese positiven Seiten können jedoch nicht von der Tatsache ablenken, daß der berufliche Pendelverkehr heute zu einem ernsten Problem für Staat und Wirtschaft geworden ist. an dessen Lösung mit allen Kräften gearbeitet werden muß. Besonders die in der jüngsten Vergangenheit stattgefundene Intensivierung der Industrialisierung unseres Landes, die großflächige Ausbreitung der Großstädte, die Umwandlungen in der Struktur des Dorfes und die Fortschritte in der Verkehrserschließung haben die Pendelwanderung begünstigt. Wenn im Marchfeld im Jahre 1951 mehr als die Hälfte der nicht landwirtschaftlichen Berufsträger ihre Arbeitsplätze außerhalb ihres Wohnortes hatten, so zeigt dieses Beispiel, welchen Umfang die Pendelwanderung in manchen Gebieten angenommen hat.

Trotz der Aktualität dieses Problems fand sich bisher nur vereinzelt Zahlenmaterial über diese Pendelwanderung, das außerdem regional begrenzt ist, so z. B. für Linz und das Marchfeld; umfassende Angaben für das Bundesgebiet standen nicht zur Verfügung. Dank der Unterstützung durch die Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung und Planung sowie anderer interessierter Stellen konnte das Statistische Zentralamt die Haushaltslisten der Personenstandsaufnahme 1955 so auswerten, daß sich für jede Gemeinde nicht nur die Zahl der dort wohnhaften, sondern auch der dort b e-schäftigten Arbeitnehmer erstellen laßt. Die an und für sich wünschenswerte Sonderung der Tagespendler, das sind jene, die täglich die Strecke von ihrem Wohn- zu ihrem Arbeitsort zurücklegen, von den übrigen Pendlern, die teils über das Wochenende, teils in größeren Zeitabständen zu ihrem „Familienwohnsitz“ zurückkehren, konnte leider nicht durchgeführt werden, da sich die Aufarbeitung — durch das für eine derartige Bearbeitung nur wenig geeignete Material bedingt — nur auf die Ermittlung von Rahmenzahlen beschränkte.

Eine Zusammenstellung der Hauptergebnisse bringt die folgende Tabelle.

Bei 40 Prozent aller unselbständig Berufstätigen waren Wohn- und Arbeitsort nicht identisch. Es sei hier darauf verwiesen, daß die 23 Wiener Gemeindebezirke so behandelt wurden, als wären sie Gemeinden. In der folgenden Uebersicht ist für jedes Bundesland der Anteil der außerhalb ihrer Wohngemeinde beschäftigten Arbeitnehmer an der Gesamtzahl der dort wohnhaften berechnet.

Von 100 in nebenstehendem Bundes-„ , ... , land wohnhaften unselbständig Be-

Btmdeslander rofstätige waren außerhalb der

Wohngemeinde beschäftigt

Wien ............ 67

Bursenland ........ 4 5

Niederösterreich .... 39

Kärnten .......... 29

Vorarlberg ........ 29

Oberösterreich ..... 2?

Tirol ............ 24

Steiermark ........ 2 3

Salzburg .......... ., 17

Betrachtet man den Austausch zwischen den Bundesländern, so sieht man, daß das Burgenland und Niederösterreich einen starken Auspendlerüberschuß aufweisen. Beide Länder geben die Hauptmasse ihrer Auspendler an die Bundeshauptstadt ab; so haben von den 46.400 über die Grenze ihres Bundeslandes pendelnden Niederösterreichern 89 Prozent ihren Arbeitsplatz in Wien, von den auspendelnden Burgenlandern 52 Prozent. Besonders bemerkenswert sind die Verhältnisse in Vorarlberg: 88 Prozent der dortigen Auspendler haben ihren Arbeitsplatz im Ausland. Während Vorarlberg aus anderen Bundesländern Arbeitskräfte heranholt, suchen sich vor allem qualifizierte Kräfte ihren Arbeitsplatz in der Schweiz. In Wien übertrifft die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer jene der in Wien wohnhaften um 6 Prozent; dies ist vor allem auf das Einpendeln von rund 50.000 Arbeitnehmern aus Niederösterreich und dem Eurgenland zurückzuführen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung