Ausgezogen, das Gruseln zu lernen

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Yuri Herrera erzählt in seiner Trilogie "Der König, die Sonne, der Tod" mexikanische Wirklichkeiten, Abgründe und Grenzüberschreitungen.

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Yuri Herrera erzählt in seiner Trilogie "Der König, die Sonne, der Tod" mexikanische Wirklichkeiten, Abgründe und Grenzüberschreitungen.

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Ein Bürgermeister, der mutmaßlich Studenten verschleppen und ermorden lässt, damit sie die Kundgebung seiner Frau nicht stören; rivalisierende Fraktionen einstiger Bürgerwehren, die sich blutige Auseinandersetzungen liefern; Tote, denen die Köpfe fehlen: Kann man über diese mexikanischen Wirklichkeiten eine Literatur schreiben, die man dann auch lesen will und ertragen kann; die diese grausamen Realitäten nicht zum profitablen platten Filmstoff degradiert, sondern den literarischen Ansprüchen und dem Leid, von dem sie erzählt, gerecht wird? Man kann, wie jetzt bei Yuri Herrera nachzulesen ist. Und der Trick ist wieder einmal die Form.

König, Sänger, Hexe und die x-Beliebige

Märchen und Grausamkeit: Diese Verbindung findet sich auch bei Erich Hackl. Der österreichische "Chronist" von Gewalt und Unmenschlichkeit wechselte in seinem Roman "Sara und Simón"(1995) in den Märchenton, statt brutale Folterszenen minutiös zu schildern - die Grausamkeit der Folter der lateinamerikanischen Militärdiktatur wird dadurch nicht weniger deutlich, ganz im Gegenteil.

Auch Herreras "Abgesang des Königs" nähert sich dem Märchen. Erzählt wird vom Sänger Lobo, dem der Vater ein Akkordeon geschenkt hatte, bevor er "nach drüben" ging und für immer verschwand. Der Straßenjunge erregt die Aufmerksamkeit des Königs und wird in dessen Hofstaat aufgenommen. Seine Corridos sind gesungene Propaganda - und solange er das Loblied auf den König erschallen lässt, geht es einem Sänger gut am Hof. Kein Märchen ohne Hexe - und natürlich gibt es auch eine Frau, die es zu befreien gilt, hier heißt sie: x-Beliebige. Man befindet sich nicht im Grimm'schen Wald, sondern - erkennbar, ohne dass es genannt werden müsste - mitten im mexikanischen Drogenkrieg, im Zentrum eines Machtapparates, wo es gilt, Verdächtige auszumachen und auszumerzen, wo es aber auch gilt, rechtzeitig die Zeichen zu erkennen, wann es Zeit ist, sich anderen Machthabern zuzuwenden und anzudienen. Der lateinamerikanische Diktatorenroman hat eine Fortsetzung und neue Form gefunden.

Durch seine Balladen erhält Lobo Zugang in den Palast, Worte sind es auch, die ihn schließlich weiterführen, nicht zuletzt die Bücher, mit denen ihn "der Journalist" versorgt. "Dem Künstler kam keiner mit Märchen", heißt es anfangs merkwürdig paradox.

2011 erschien "Abgesang des Königs" zum ersten Mal auf Deutsch, nun hat der S. Fischer Verlag die Prosa zusammen mit zwei weiteren Texten zu einer "mexikanischen Trilogie" gebunden und ihr den Titel "Der König, die Sonne, der Tod" gegeben. Als Triptychon wurde diese Zusammenstellung bereits bezeichnet, und der Mittelteil dieses Triptychons, "Zeichen, die vom Weltende künden", scheint dieser Deutung durchaus Recht zu geben.

Der Abgrund des Landes ist hier zunächst ein ganz buchstäblicher, kann sich doch jederzeit ein Loch auftun und alles darin verschwinden: Haus, Straße, Mensch. Das durch die Gier nach Silber seit Jahrhunderten untergrabene Land zeigt sich aber auch im übertragenen Sinn als völlig unterhöhlt. "Verdammte, tückische Stadt, sagte sie, ständig dabei, sich in den Keller zu verabschieden." Kein Wunder, dass die Menschen "nach drüben" wollen und selten zurückkommen. So wie Makinas Bruder, der vor Jahren einfach gegangen ist, und den zu suchen die Mutter nun die Schwester beauftragt: "ich schick dich nicht gern, Mädchen, aber wem soll ich's auftragen, einem Mann?" Makina kreuzt den Weg jener, die in Schlafsälen auf den richtigen Zeitpunkt warten, um hinüber zu gelangen, sie sieht die krummen Geschäfte, die mit ihnen gemacht werden, sie überquert selbst mit einem Reifenschlauch den Fluss und erlebt dann - drüben - den Umgang mit Flüchtlingen: "Gewöhnt euch dran, euch einzureihen." Dann findet sie den Bruder, doch der ist längst nicht mehr der Bruder, den sie suchte. Und sie selbst ist nicht mehr die, die sie war. Auch die neue Sprache benennt Dinge nicht nur anders, die Dinge sind in der anderen Sprache andere.

So beinhart real der Text beginnt, in seiner Beschreibung der tückischen Stadt, der Träume der Flüchtlinge, der Ankunft "drüben" - so sehr wendet sich der Text dann ins Fantastische: durch die Überschreitung der Grenze (die Überquerung des Flusses findet sich auch in den Mythen der Azteken) löst sich auch auf, was als Wirklichkeit gegolten hat. Vielleicht sogar das Leben, in jenem Moment, wo Makina den Raum der "Entwandlung" betritt ...

Bemerkenswert literarisch

"Körperwanderung", der dritte, sehr skurrile Text dieser Trilogie, erhält seinen unheimlichen Rahmen durch eine ansteckende Epidemie. In der panikgeschwängerten Atmosphäre, in der die Großstadt ihren Atem anzuhalten scheint, kommen sich zwei Menschen auf eigenartige Weise näher - und haben zwei verfeindete Familie plötzlich die Leiche eines Kindes der jeweils anderen Familie im Haus.

Yuri Herrera, 1970 in Actopán/Mexiko geboren, ist selbst über die Grenze gegangen: Er studierte in Mexiko, El Paso und in Berkeley. Zurzeit lehrt er an der Tulane University in New Orleans. Er erzählt das gegenwärtige Mexiko - die Gewalt und die Abgründe ebenso wie die Hoffnungen -, auf eine bemerkenswert literarische und verstörend stille Weise. Seine Prosa wurde von Susanne Lange aus dem Spanischen übersetzt, die sich schon mit der großartigen Neuübertragung von Cervantes' "Don Quijote von der Mancha" einen Namen gemacht hat.

Der König, die Sonne, der Tod

Mexikanische Trilogie von Yuri Herrera

Aus dem Span. v. Susanne Lange

S. Fischer 2014

348 Seiten, geb., € 20,60

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