Der Veteran und seine inneren Stimmen

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Bernardo Atxaga, der Autor von "Obabakoak", schrieb einen Roman über Freundschaft, Loyalität, Sex, Verrat und die Angst eines gealterten ETA-Terroristen.

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Bernardo Atxaga, der Autor von "Obabakoak", schrieb einen Roman über Freundschaft, Loyalität, Sex, Verrat und die Angst eines gealterten ETA-Terroristen.

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Hätte Carlos nicht seine beiden Hündinnen, die täglich ihren Auslauf brauchen, wäre ihm vielleicht der Mann mit der Baseballmütze und der Maschinenpistole im Gebüsch hinter dem Hotel gar nicht aufgefallen. Wüßte er nicht, wie weit sich die unsichtbare Schlinge um seinen Hals schon zugezogen hat. Und hätte er nicht die Beobachtungsgabe und Erfahrung des ehemaligen Untergrundkämpfers, würde er den Mann mit der fuchsiaroten Weste vielleicht glatt für den Chef eines Kamerateams vom spanischen Fernsehteam halten, das die im Hotel untergebrachte polnische Fußballmannschaft interviewt: Der Roman "Ein Mann allein" des 1951 in einem baskischen Dorf geborenen Bernardo Atxaga spielt während der Fußball-Weltmeisterschaft 1982 in Barcelona.

Aber "war es nicht seltsam, daß die zwei Fernsehmänner im gleichen Tonfall redeten, in ebendiesem penetrant süßlichen Tonfall? Im übrigen fingen sie beide die Sätze mit ,wie auch immer' oder ähnlichen Floskeln an - als ob sie lange der gleichen Sekte angehört und sich gegenseitig mit bestimmten Angewohnheiten angesteckt hätten. Das war erwiesenermaßen in mehr oder weniger engen Gemeinschaften meistens der Fall: Die individuellen Eigenheiten lösen sich nach einer gewissen Zeit auf, und das Verhalten wird homogener. Vor allem, wenn sich - wie bei den Sekten der Fall - die Gemeinschaft einem strengen Reglement unterwirft. Ja, die meisten, die eng mit der Religion verbunden sind, tragen mit der Zeit einen Stempel oder ein bestimmtes Mal. Auch bei den Soldaten war das natürlich der Fall. Und wie bei den Soldaten - die Erkenntnis traf Carlos wie ein Blitz -, auch bei der Polizei! Möglich, Carlos, möglich, daß es sich um Polizeibeamte handelt, sagte Sabino, der sich in Carlos' Bewußtsein wieder zu Wort meldete. Diesmal jedoch ganz nüchtern. Wie ein Lehrer."

Sabino, der Carlos einst für die ETA ausbildete, ist tot. Er wurde vor langer Zeit von der spanischen Polizei erschossen. Der innere Dialog mit Sabino ist einer der Kunstgriffe des Romans. Beziehungsweise dieses Carlos, der die Gewohnheit, Stimmen zu hören, als besondere Art, sich mit sich selbst zu unterhalten, im Gefängnis angenommen hat. Nicht nur Sabino, auch eine innere Ratte meldet sich gelegentlich zu Wort - eine Ratte, "die zwischen seinen Eingeweiden groß und größer wurde und nichts anderes bezweckte, als ihn zu demütigen", indem sie ihm alles zuflüstert, was er nicht hören will, was seine Ruhe stört. Sabino ist sein Über-Ich geworden, die Ratte eine Art von Es.

Auch Carlos' Bruder flüstert Carlos öfters etwas zu. Einst ein Verbalradikaler, nun in höhere Sphären abgetaucht und in einer Anstalt untergebracht. Seine mehr oder weniger echte Unzurechnungsfähigkeit und sein Schweigen dienten dem Weißwaschen des Geldes, mit dem Carlos und zwei weitere ETA-Veteranen das Hotel gekauft und sich ins Privatleben zurückgezogen haben. Und dann und wann melden sich unter den inneren Stimmen auch die Angehörigen der Geisel, die Carlos einst auf Befehl der "Organisation" erschossen hat.

Der mit "Obabakoak" weltberühmt gewordene Bernardo Atxaga (der Roman wurde in 30 Sprachen übersetzt) erhielt 1994 für das neue Buch den Premio de la Critica. Vordergründig handelt es von baskischer Befindlichkeit, baskischem Streben nach Unabhängigkeit, baskischem Terror und vom privaten Aussteigen aus dem Untergrundkampf. Carlos wird von seiner Vergangenheit eingeholt. Sie hat sich mit einer Bitte der alten Gesinnungsgenossen gemeldet, zwei "Aktive" für höchstens eine Woche zu verstecken. Er hat spontan positiv reagiert, unter der Bedingung, daß es wirklich nicht länger dauert und daß Jon und Jone sich an die Bedingungen halten und das Kellerloch, in dem er sie unterbringen wird, niemals verlassen. Aber dann passiert ein neuer Gewaltakt, bei dem - unbeabsichtigt - ein Kind umkommt, die Sicherheitskräfte sind auf Trab, und aus der einen Woche werden drei. Da bleibe einer Tag und Nacht in einem Kellerloch und widerstehe der Versuchung, einmal am Abend die Sonne zu sehen und Luft zu schnappen. Aber wenn eine fünfjährige Plaudertasche Jones Pistole sieht - was dann?

Obwohl das Buch überaus spannend geschrieben ist, Atxaga die Schlinge um Carlos langsam und beängstigend konsequent zuzieht und ihn erst zuletzt, Krimi-kompositorisch genau im richtigen Moment, aber eben zu spät, erkennen läßt, wer ihn verpfiffen hat, trennen Welten "Ein Mann allein" von den üblichen Terror- und Agentenreißern. Mit psychologischer Meisterschaft läßt Atxaga den Selbstbeobachter Carlos den Aktionen der Polizisten, die einen Hinweis bekommen haben, seinem eigenen Hin und Her zwischen Selbstbeschwichtigung und Angst und schließlich dem Aufkommen seiner eigenen Panik zusehen. Die Methode der inneren Dialoge wird virtuos gehandhabt, sie langweilen keinen Augenblick.

Dieses Buch konnte nur jemand schreiben, der die Wurzeln des ETA-Terrors kennt, jemand, der - ohne Beschönigung - den Weg junger Menschen in die "aktiven Zellen" verständlich zu machen versteht. Doch das ist nur der mächtige, wichtige Vordergrund. Eigentlich handelt "Ein Mann allein" von der Schwierigkeit, sich selber treu zu bleiben, von Freundschaft, Loyalität, Sexualität, Liebe und Verrat und von der Normalität der Angst im Leben jener, die das Reich der Normalität verlassen haben. Es ist nicht zuletzt eine Parabel auf die Ausweglosigkeit eines existentiellen Konflikts, der nicht mit der Bitte, zwei "Aktive" zu verstecken, und nicht mit dem Schritt des jungen Carlos in die "Organisation" begonnen hat, sondern, bei allem Abscheu vor einem Befreiungskampf mit Terror und Gewalt, in der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts wurzelt. Für die Basken, die Kosovo-Albaner und alle anderen unterdrückten Völker, deren Gewaltanwendung man zwar nicht rechtfertigen, aber verstehen kann - solange, bis sich der Terror von seinen ursprünglichen Zielen abgehoben hat, nur noch Leid und Haß erzeugt und dem Ziel, das einst herbeigeschossen und herbeigebombt werden sollte, im Weg steht.

Atxaga kürzlich in einem Interview: "Die nationalen Gefühle der Basken sind eine Reaktion auf einen anderen Nationalismus. Es gibt Volksgruppen, die es nicht nötig haben, ihre Eigenständigkeit zu bestätigen oder gar zu unterstreichen, weil sie stark und mächtig sind. Ich möchte einmal sehen, was in Spanien passiert, wenn das Spanisch plötzlich unterdrückt würde und alle plötzlich anfingen, Englisch zu reden. Ich wohne in einem Dorf, wo Untergetauchte leben, wo es Gefangene gibt, wo es Tote gegeben hat. Alle meine Jugendfreunde haben irgendwann einmal im Gefängnis gesessen."

Die ETA, so Atxaga, sei nicht allein dafür verantwortlich, daß es sie gibt. Alle hätten zur gegenwärtigen Situation beigetragen. Nicht nur die Basken, auch der spanische Staat: "Das Gespräch ist zu einem Dialog zwischen Tauben und Stummen geworden, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Dazwischen stehen die Waisen. Und die Luft wird immer dünner."

Ein Mann allein Roman von Bernardo Atxaga. Aus der spanischen Übersetzung, übersetzt von Gio Waeckerlin Induni, Unionsverlag, Zürich 1997, 400 Seiten, geb., öS 285,

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