Die Doppelrolle des Militärs

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Machtinstrument der Herrscher, Avantgarde des Widerstandes.

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Machtinstrument der Herrscher, Avantgarde des Widerstandes.

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Wer immer das Heer in seiner Substanz, die Soldaten, die Menschen, wertet - und dies ist für die Gesamtbeurteilung unabdingbar - sollte fähig sein, von Quellen auch der Basis ausgehend, unter Einbeziehung der Umfeldsituation und mit Blick auch auf den Gegner den Bogen über alle Haltungsmarkierungen von der Niedertracht über Gewissenszweifel bis zur Fairness zu ziehen und nicht in vereinfachten, manchmal einseitigen Beurteilungskriterien zu verharren."

Mit diesem wissenschaftlich verklausulierten Satz kritisiert Richard Georg Plaschka, emeritierter Ordinarius für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, die umstrittene Wehrmachtsausstellung, ohne sie je namentlich zu nennen. Und der Leser bekommt in der zweiten Hälfte des zweiten Bandes, nach der Schilderung aller Aufstands- und Widerstandsaktionen des 19. und 20.Jahrhunderts, den Eindruck, dass gerade die Kritik an der Pauschalierung, der Nichtberücksichtigung vieler relevanter Faktoren in jener Ausstellung, das innere Motiv des Autors gewesen ist.

Der Mensch trage auch "furchtbare Anlagen in sich", fährt Plaschka zitierend fort, "für deren Auslösung in Grenzsituationen bei manchen ein "geringes Versetzen innerer Grenzpfähle genügt". Dies betreffe nicht nur die damaligen Deutschen - einschließlich der Österreicher - allein; ein gewisser Promillesatz für Brutalität besonders Anfälliger sei in allen Armeen der Welt vorhanden.

"Aber ebenso richtig ist, dass im Krieg vor allem in der Sowjetunion und in Südosteuropa im deutschen Heer die Hemmschwellen über höchste und hohe Weisungsvorhaben einleitend und prinzipiell oder unter zugegeben kritischen Bedingungen bedenklich herabgesetzt wurden ... dass es zeit- und stellenweise Verbrechensinvolvierung auch von Einheiten oder Soldaten des Heeres gab, steht ebenso fest, wie dass jene Vorgaben und die nachbarschaftlichen SD- und SS-Massenmordinitiativen... nicht als haltungstypisch für Heer und Soldaten anzusehen sind."

"Die Schändlichkeit, die im großen die Bilanz dieser Epoche ausmacht," zitiert Plaschka den deutschen Historiker Martin Broszat, "kann nicht bedeuten, dass den vielen sozialen, wirtschaftlichen, zivilisatorischen Wirkungskräften, den zahlreichen Modernisierungsbestrebungen ihre geschichtliche Bedeutung allein durch die Verknüpfung mit dem Nationalsozialismus genommen wird." Die Bilanz dürfe "auch vor der Bewertung der Funktion und des Anteils der Wehrmacht nicht haltmachen", fährt Plaschka fort. "Aber sie darf ebensowenig über die Differenziertheit der in der Wehrmacht wirksamen Haltungskräfte hinweg pauschalierenden Urteilen die Bahn freigeben."

Die Wehrmacht war zweifellos eine straff organisierte Institution, sie war aber unter Berücksichtigung der Generations- und der eigenen Traditionsvorgaben weitgehend nicht Spiegelbild des Regimes, sondern Spiegelbild der Nation. Das konnte auch Distanz zum Regime bedeuten, meint Plaschka und zitiert den früheren deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt : "Wir fühlten uns sozusagen in einer Schutzzone." Und Schmidt weiter: "Jede Generation ist geneigt, ihre eigenen Maßstäbe an das Handeln der vorausgegangenen Generation anzulegen. Deswegen fällt es manchen unter den heute lebenden jungen Deutschen schwer, den Gehorsam jener jungen Deutschen zu verstehen, die als Soldaten draußen oder in Zivil in der Heimat den Krieg durchzustehen hatten."

Der Krieg in der Sowjetunion brachte neue Kriegsbilder und Erlebnisse. Nach den Siegen im Westen kam es hier bald zu Krisen und Rückschlägen mit schwersten personellen und materiellen Verlusten. Der von der Propaganda verkündete "Krieg gegen den Bolschewismus" und die "asiatische Barbarei", der "Kreuzzug für Europa" stieß auf der Seite der Kriegsgegner selbstverständlich auf erbitterte Gegenwehr, der Terror eskalierte im Partisanenkrieg und wurde zum Vernichtungskrieg.

Je höher die Verluste der Stammdivisionen waren, je mehr Nachschub an jungen, schon durch die Schule des Regimes gegangenen Soldaten und Reserveoffizieren an die Front kam, desto mehr konnte sich die Propaganda auf die Haltung der Truppe auswirken. Und trotzdem blieb - wie der deutsche Historiker Hans Mommsen schreibt - "die Mentalität des durchschnittlichen Landsers von Nüchternheit, Ablehnung der realitätsfernen Propagandatiraden und dem festen Willen geprägt, selbst zu überleben." Der einfache Soldat hatte auch kaum die Möglichkeit, sich der Eskalation der Gewalt zu entziehen.

Und nochmals Helmut Schmidt : "Die meisten Soldaten unter Hitlers Oberkommando waren keine Nazis. Aber sowohl Herkommen und Erziehung als auch die Allmacht des Staates hatten ihnen zur Pflicht gemacht, dem Vaterland zu dienen - auch und gerade im Krieg... Hitler hat unser Pflichtbewusstsein benutzt und mißbraucht." Soweit der einstige SPD-Bundeskanzler. Dem österreichischen Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim wurde jedoch sein (anfängliches) Bekenntnis zur Pflichterfüllung im Krieg zum schweren Vorwurf gemacht.

Auch regimekritische Offiziere und Befehlshaber standen im Dilemma, an der Front gegen einen ebenso brutalen Feind für ihre Soldaten und in der letzten Kriegsphase für die Verteidigung der Heimat verantwortlich zu sein und gleichzeitig zu sehen, wie sie Mitwisser, mitunter Mittäter eindeutiger Verbrechen wurden. Die zum Teil schon vor dem Krieg einsetzenden, mehrfach gescheiterten Versuche, den Diktator auszuschalten, die schließlich im Attentat vom 20. Juli 1944 gipfelten, bilden im ersten Teil des Werkes mit der detaillierten Abfolge, im zweiten mit der Analyse der Hintergründe und Motivationen den Schwerpunkt des Werkes.

Das Phänomen der Revolte, des Aufstandes, der Auflehnung gegen repressive Macht beschäftigt Richard Plaschka, seit er sich vor Jahrzehnten mit einer Untersuchung über die Revolten von Cattaro und Prag 1918 habilitiert hat. Nun schildert er nach einem Rückgriff auf die Ermordung Albrecht von Wallensteins in Eger 1634 die Konfrontation von "Insurrektion und Konterrevolution" in Prag 1848, Sarajewo 1878, Sankt Petersburg 1905 - und Prag 1968. Er greift über auf die Aktionen der Kolonialmächte gegen die Auflehnung der Kolonialvölker in Indien, Abessinien, dem Sudan, Südwestafrika und im Boxeraufstand in China, auf die sozialbestimmten Meutereien auf dem Panzerkreuzer Potemkin 1905 und zu Ende des Ersten Weltkriegs.

Dieser bietet eine Szenerie vieler nationaler Aufstandszenarien bei der Bildung von Freiwilligenlegionen auf beiden Seiten. Der Aufstand der Offiziere gegen ihre Führungen dokumentiert sich bei den Dekabristen 1825 in Sankt Petersburg, findet mit dem 20. Juli 1944 in der Berliner Bendlerstraße seinen Gipfelpunkt und wird dann mit dem slowakischen Aufstand 1944 und der Revolution in Budapest 1956 fortgesetzt.

Die Warschauer Aufstände 1943 und die Aktivitäten der Partisanen in der Sowjetunion, in Jugoslawien und Vietnam runden das Werk ab. Im zerfallenden Tito-Jugoslawien werden die Militäreinheiten der auseinanderstrebenden Republiken zu Trägern des Widerstandes gegen die Zentralmacht. Der zweite Band analysiert schließlich Motivationen und Instrumentalisierung.

Das Militär in einer Doppelrolle, in einem Spannungsverhältnis: Machtinstrument des Herrschers, des Staates, des Regimes zur Verteidigung der Machtpositionen auch gegen die eigenen Untertanen, die Bürger - und dann wieder Avantgarde des Widerstandes, wenn die Machthaber diese Verteidigung zur Repression überdehnen. Dem Leser mögen Zweifel kommen, ob die erwähnten Kolonialkriege - der Engländer in Indien, der Italiener in Abessinien, der Deutschen in Südwestafrika, der europäischen Mächte in China - in diesen Kontext hineinpassen. Die geschilderten Vorgänge lassen auf jeden Fall deutlich werden, dass Scheußlichkeiten kein Vorrecht ideologisch aufgeheizter Auseinandersetzungen sind.

Avantgarde des Widerstandes. Modellfälle militärischer Auflehnung im 19. und 20. Jahrhundert. Von Richard Georg Plaschka. Verlag Böhlau, Wien 2000. 2 Bände, 625 + 431 Seiten, öS 1.200.-/ E 87,21

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