Fluchtwelten und Utopien

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Sprechtheater auf den Bundesländerbühnen in der Saison 2003/04.

Die kommende Saison der Theater in den Bundesländern verfolgt neben dem traditionellen klassischen Repertoire vor allem zwei aktuelle Linien: Zum einen die Globalisierung und deren Auswirkungen auf die Arbeitswelt, zum anderen die Thematisierung kultursoziologischer Phänomene im Kunstsektor. Cash, Top dogs, Die Kunst des Hungerns, Das Münchhausen Syndrom und Kunst sind die schlagenden Titel auf den Spielplänen der Landesbühnen.

Als besonders innovativ und mutig präsentiert sich wieder einmal Graz. In der letzten Spielzeit unter der Intendanz von Karen Stone steht das Theater im Zeichen der anglo-amerikanischen Dramatik. Mit der Uraufführung von Marc Hennings Die Kunst des Hungerns (nach Franz Kafka) setzt sich das Schauspielhaus mit heutigen Lebensentwürfen auseinander. Vor der Folie des inflationären Auftretens von Anorexie, Selbstverstümmelung und Lebensverweigerung wird Kafka zum literarischen Filter. Das aktuelle Bedürfnis nach Zurschaustellung von Freaks und Exotischem manifestiert sich auch auf formaler Ebene. Revue und Variète werden aus dem Off-Theaterbereich in die sogenannte Hochkultur gehoben und als Unterhaltungskunst gesellschaftsfähig. Mit Heißer Herrenabend mit Damenwahl nimmt Graz mit Zauberern, Clowns und Akrobaten erotische Revuen ins Repertoire. Die Deutsche Erstaufführung von Simon Stephens Port erzählt das Schicksal der sozialen Gratwanderung einer jungen Frau und setzt Negativ-Lebensmodellen Überlebensstrategien entgegen. Michael Cooneys Cash - und ewig rauschen die Gelder vermittelt die Interessen und neuralgischen Punkte einer Gesellschaft, die ihr Ventil in der Produktion von Kunst sucht.

Deren Definition und Stellenwert bleiben zeitlose Themen, die das Stadttheater Klagenfurt mit Yasmina Rezas erfolgreichem Stück Kunst (mit den Stars Udo Samel, Gerd Wameling und Peter Simonischek) auf die Bühne bringt und den eigenen Betrieb reflektiert. Urs Widmers Top dogs stellt die Welt der Leistungsgesellschaft auf den Kopf und beleuchtet das brisante Thema Arbeitslosigkeit ganz ohne Betroffenheitspathos. Wie jedes Jahr gestaltet Klagenfurt eine Hommage an einen heimischen Autor: Heuer wird die Dramatisierung von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften Utopien und Zukunftsperspektiven anbieten.

Das Landestheater Linz hat anlässlich seines 200jährigen Bestehens die Jubiläumsspielzeit unter dem nicht sehr originellen Titel "Zaubertheater - Theaterzauber" eingerichtet. Mit Raimunds Der Bauer als Millionär und Shakespeares Sommernachtstraum will uns Linz mit Gnomen, Elfen und Feen aus der Welt des Alltags zum Träumen entführen, sehr allgemein reagiert der Bundesländerjubilar mit der Uraufführung von Werner Fritschs Hydra Krieg (eine Medea-Bearbeitung) auf weltpolitische Ereignisse. Interessant erscheinen vor allem Matthias Kaschnigs Lügenbaronprojekt Das Münchhausen Syndrom sowie die Österreichische Erstaufführung von Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher, 51 Momentaufnahmen Liebes- und Lebenssplitter.

Das derzeitige intensive Auseinandersetzung mit dem Anderen, mit Exotik und Fremd-Sein reflektiert das Salzburger Landestheater mit dem Auftritt eines Schimpansen als Varietékünstler: Kafkas Ein Bericht für eine Akademie erzählt von der Zurschaustellung eines aus der Gesellschaft Ausgegrenzten. Zugleich hat auch das Tiroler Landestheater das Stück im Repertoire. Das 2002 in Innsbruck installierte Dramatiker-Festival wird heuer fortgesetzt und bringt Thomas Gassners Heldenboulevard "Raffl", eine Groteske, die die Tiroler Freiheitskämpfe aus der Knecht-Perspektive zeigen. Besonderes Interesse ruft die Österreichische Erstaufführung des Bachmann-Preisträgers John von Düffel hervor. Sie wird nicht nur inhaltlich, sondern auch inszenatorisch neue Akzente in Innsbruck setzen: Intendantin Brigitte Fassbaender wird damit ihr erstes Schauspiel einrichten, in dem die prominenten Theaterfiguren Desdemona, Bianca und Emilia als die Geister der Gegenwart über Frauenschicksale und Sehnsüchte reflektieren. Mit dem dramaturgischen Kniff der Parallelhandlung orientiert sich von Düffel in Othello.Therapie auch formal an Shakespeare und erweist sich als kluger Komödienautor. Der meistaufgeführte deutschsprachige Gegenwartsdramatiker Igor Bauersima antwortet mit norway. today auf das Problem der verschiedenen Realitäten, über den virtuellen Raum des Internet heben sich Grenzen auf, das eigene Leben wird zum Kunstprojekt. Gespiegelte Wirklichkeiten heben einander auf und bestätigen das jeweils Andere, so mag das gefilmte Leben ein wirkliches motivieren. Die Pläne der Landestheater bieten kein Leben aus zweiter Hand, sondern machen Fluchtwelten sichtbar und eröffnen Utopien aus der verdichteten Bühnenperspektive.

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