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Das Ärgernis

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„Pilatus übergab den Jesus ihrem Willen“ — mit diesem kurzen, grausamen Satze war das Todesurteil über unserem Herrn Jesus Christus erklärt. Nicht dem Willen der Gerechtigkeit, nicht dem Willen der Macht, sondern dem Willen der Gewalt wurde Christus ausgeliefert. Die Gewalt bestand darin, daß des Volkes Wille auf Tod bestand. Dieser Gewalt beugte sich der römische Richter — gegen seine bessere Einsicht und gegen seine größere Macht. Er beugte sich der Gewalt des Volkswillens vielleicht aus Staatsklugheit — aber damit konnte er eine größere Staatsunklugheit begehen: wer weiß, ob das Volk nicht Gefallen daran findet, seinen Willen auch in Zukunft durchzusetzen, wenn es dieses eine Mal ging?!

So nahm Jesus das Kreuz auf sich. Dieses seltsame Symbol des Kreuzes: es ist so, wie der Mensch sein soll — rechtwinkelig. Der aus seiner Rechtwinkeligkeit ver-rückte Mensch muß gekreuzigt werden, damit er wieder richtig, recht und gerecht werde. Den einzig Nicht-Ver-rück-ten unter den Menschen hat man gezwungen, dieses Kreuz zu tragen und zu besteigen — damit Er ein für allemal die Menschen wieder richtig und gerecht mache. Darum hatte der Herr Seinen Jüngern wohl befohlen, daß sie täglich ihr Kreuz auf sich nehmen und Ihm nachfolgen sollten. Es geht bei diesem Befehle nicht darum, daß man das Kreuz Christi trage: Seine Richtigkeit ist unerreichbar. Seine Gerechtigkeit reicht für die ganze Menschheit von den Tagen Adams bis zum Jüngsten Tage. Jeder aber soll sein Kreuz, sein eigenes, auf sich nehmen und tragen: damit jedem seine Richtigkeit, seine ihm nach den Maßen der Ungerechtigkeit und Verrücktheit gebührende Richtigkeit wieder erstehe. Die Richtung aber, auf der jeder Kreuztragende dieses Richtigwerden erreicht, ist die Richtung Christi: Ihm soll man dann nachfolgen, wenn man sein Kreuz gefunden und übernommen hat. Christi Richtung und Weg: das ist Er selbst. Er ist die Brücke zwischen Himmel und Erde, zwischen Menschheit und Gottheit, zwischen Außen und Innen, zwischen Oben und Unten. Ueber diese Brüeke allein führt der Weg des Menschen in das Reick Gottes: in jene Gerechtigkeit, die allein ausschlaggebend ist. „Suchet zuerst das Reich Gottes und Seine Gerechtigkeit — alles andere wird euch nachgeworfen werden.“

Wer diese christusrichtige Gerechtigkeit hat — wenigstens in der Richtung mit Christus auf den Vater hin hat —, der hat den Willen zur Macht. Dem ist alle Gewalt fern. Dem ist dann auch der Christus überlassen und übergeben. Diesem Willen entspringt dann Geist, entspringt Leben, entspringt Ewigkeit. — So heißt es unter uns Christen, daß wir keinem ein Kreuz aufladen sollen, jeder soll sein Kreuz auf sich nehmen. Wer anderen etwas (und sei es im Namen Christi) auflädt, begeht Gewalt: er übt Gewalt aus mit einem Willen zur Gewalt — ohne Macht und ohne Gerechtigkeit. Der ist nicht anders als Pilatus, der den Christus dem Willen des Volkes übergab, und das Volk, das den Christus dem Tode übergab. Nur wer das eigene Kreuz trägt und tragend dem Christus nachfolgt, entgeht der ungerechten Gewalt, geht in gerechter Macht, entgeht dem Tode und geht ins ewige Leben.

Es liegt also am Kreuze und Kreuztragen, wie man sich auf Erden voneinander unterscheidet: nicht dem Herrn das Kreuz aufladen — nicht dem Nächsten das K^uz aufladen — nicht des Herrn Kreuz tragen - nicht ein willkürlich fremdes Kreuz tragen, sondern das eigene Kreuz und dies täglich tragen. So ist es eine Unterscheidung der Geister: am Kreuze und Kreuztragen wird offenbar, wes Geistes wir sind. Ob wir aus Gott stammen und in Christi Gerechtigkeit gerecht sind oder ob wir von Gott abgefallen und fernbleiben, weil wir an Christi Gerechtigkeit Aergernis nehmen.

Das Aergernis besteht. Dies ist das Aergernis: die eigene Ver-rücktheit einsehen zu müssen und die unfaßbare, die geheimnisvolle Richtigkeit des Gottmenschen Jesus Christus annehmen zu sollen. Das Aergernis: mehr Nicht-Ich sein zu sollen als Ich; mehr vom Christusleben zu halten als vom eigenen Leben. Das Aergernis: sich gekreuzigt zu fühlen in allem und unter allen und nirgends daheim zu sein als in der „Schwebe“: in der Schwebe des Kreuzes, das zwischen Himmel und Erde, zwischen Eigenleben und Gottleben uns hält. Sankt Paulus nennt es: Er sei der Welt gekreuzigt und die Welt sei Ihm gekreuzigt. Das heißt doch, daß wir die Welt nicht verstehen und nicht in iHr stehen und daß die Welt uns nicht versteht und auch nicht für uns einsteht. Es geht eben nicht und nie auf: es gibt keine Gleichung, es gibt keine Vermittlung in einem Dritten, es gibt keine endgültige Ein-für-allemal-Lösung für den Menschen. Das Kreuz und die Kreuzigung gelten: deines, meines, eines jeden Kreuz und Kreuzigung, und über allem Kreuz und Kreuzigung des Herrn Jesus Christus.

Wenn wir aber am Kreuze hängen, werden wir eine bittere Erfahrung machen — die gleiche, die unser Herr getani—: die Welt wird unsere Gewänder unter sien verteilen und über das nahtlose Gewand unserer Persönlichkeit das Los werfen. Gerade daran werden wir erkennen, ob und wie weit wir gekreuzigt sind. Am Kreuze sind wir nackend und bloß — da haben wir nichts mehr, was uns verhüllt, versorgt, was uns schützt und unterscheidet, einen von dem anderen. Schutz und Hülle, Sorge, Sicherheit und die Unterscheidung — dies alles gehört zur „Welt“; es gehört in dieses Reich der Erde; es gehört zum Nichtgekreuzigten in uns. Die Gewänder stammen aus Gottes Barmherzigkeit und sind eine vorläufige Leihgabe an den sündigen Menschen. Die Gewänder sollen ja gerade verbergen, daß wir nackend und bloß unseres Gottes sind. Gewänder sollen Zeichen dafür sein, daß wir nicht so sind, wie wir sein sollen. Erst in der Kreuzigung, die uns zurechtrückt, die uns richtig macht, neu macht in der Richtigkeit unseres Gottes — erst in der Kreuzigung darf alles Gewand von uns fallen: denn die Kreuzigung erlöst uns von den Gewändern. Jetzt, da wir Erlöste sind — was brauchen wir Schutz? -> was brauchen wir irdische Gerichtigkeit? — was geht uns die Sorge um Speise und Trank und Kleidung noch an? — was soll uns die soziale, die intellektuelle, die nach Erfolgen gemessene Unterscheidung des einen vom anderen? Jetzt gilt nur noch und zuerst, wieder richtig und gerecht zu sein und in der Richtung zu leben, die uns Gott in Christus wieder eröffnet hat. Die Gewandung, die Kleider loll uns nehmen die Welt: dann sind wir arm und hungrig und durstig und verfolgt, sind reinen Herzens und barmherzig einer zum anderen, dann sind wir Söhne Gottes. Selige sind wir in alldem, was die Welt für Unseligkeit erklärt. Uns nimmt die Welt die Gewänder der Sattheit, des friedvollen Daheim, des Reichtums, der Ehre und der Macht. Die Welt verteilt unter sich, wovon wir erlöst und befreit wurden. Die Gekreuzigten sind nackend, die Nichtgekreuzigten sind mit ihren eigenen und den Gewändern der Gekreuzigten beladen und verhüllt.

„Sie führten Ihn zur Kreuzigung“: damit Er die ungerechte, unrichtige Menschheit gerecht und recht mache.

„Wer Mein Jünger sein will, der nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge Mir nach“: damit er seine Richtigkeit, seine Gerechtigkeit, seine Richtung findet ins nackte, selige Leben Gottes hinein.

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