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Defoe und sein Robinson

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Nicht unähnlich unseren stürmischen, wechselvollen Zeitläuften waren, nur in kleineren Maßstäben, die Verhältnisse in England zur Zeit des alten schottischen Königsgeschlechts der Stuart (eigentlich eine Verballhornung von Steward, heute Aufwärter, Kellner, damals höherer Aufseher, Reichshofmeister): alle Augenblicke Rebellionen, andere Regierungen und Religionskämpfe, eine Zeit, wo sich die echten von den falschen Charakteren schieden. Jene machten aus ihrem Herzen keine Mördergrube, diese richteten es sich. Zu diesen gehörte Jonathan Swift, Vorkämpfer der Staatskirche, der geniale Satiriker, der große Dichter von Gullivers Reisen, aber auch der große Egoist, der trotz seinen Berechnungen nicht auf seine Rechnung kam; zu jenen gehörte sein Zeitgenosse Daniel Defoe (1660 bis 1731), überzeugter und leidenschaftlicher Dissenter, lachender Pamphletist, der große Dichter von Robinson Crusoe und zugleich ein großer Charakter. Er blieb seiner edlen Gesinnung treu bis in den Tod und hatte es eben darum ungleich schwerer.

Bald stand Defoe in höchster Königsgunst, bald stand er am Pranger und wanderte in den Kerker; bald mußte er in den Kriegswirren sein Vaterland fliehen, bald konnte er im Triumph zurückkehren, und auch heute gibt es nicht wenige Staatsmänner und emigrierte Dichter, die ähnliche politische Schicksale haben. Vielleicht steht Defoe auch darum unserem Herzen nahe, auch wenn er nicht den „Robinson Crusoe“ geschrieben hätte, der seit einem Viertel Jahrtausend alle Leser im Sturm eroberte bis auf den heutigen Tag. Geld und Gut hielt sich bei ihm nicht, er war öfter bankrott als wohlhabend, obgleich er seiner Abstammung, Erziehung und Jugend nach zu einem angenehmen und erfolgreichen Leben bestimmt schien. Sohn eines wohlhabenden Fleischermeisters, hochgebildet auf der berühmten Schule zu Newington-Green, mit Recht dar Stolz seiner Eltern, ergriff er zuerst den Beruf eines ehrsamen Strumpfwarenagenten, betrieb späiter eine Schlauchwarenfaktorei, wechselte zum Journalismus und begründete die von 1704 bis 1712 erschienene, viermal in der Woche herauskommende „Review“. Es war das erste Volksblatt überhaupt. Es war insofern neu, als es nicht nur wie die bereits bestehenden Zeitungen allein Nachrichten brachte, sondern einen feuil-letoniBtischen Teil angliederte, wodurch es alsbald zum Vorbild des späteren „Spectator“ wurde. Es war Defoes glücklichste Zeit.

Er veröffentlichte aber auch schon Bücher politischen und sozialen Inhalts, wie 1697 — lange vor dem Alterswerk Robinson Crusoe — „Essays on projects“ (das deutsch erst 1890 unter dem Titel „Soziale Fragen vor 200 Jahren“ erschien). Darin tritt er als Weltverbesserer großen Stils auf, als ein für seine Zeit kühner Neuerer, ähnlich wie anderthalb Jahrhunderte später Dickens. Er arbeitet bis in alle Einzelheiten die Errichtung von Krankenkassen, Witwenkassen, Pen-sionsversicherungen aus, er schlägt Einzahlungskreditbanken und Assekuranzgesellschaften gegen Gefahren und Schäden aller Art vor, er empfiehlt Erziehungsanstalten und „liberale Irrenhäuser“, verbesserte Landstraßen und staatliche Förderung der Wissenschaft als einträglichste Quelle der öffentlichen Wohlfahrt. Das aufsehenerregende Werk trägt ihm die Gunst des Königs Wilhelm III. ein, worauf er 1701 „The true bom Englishman“ veröffentlicht, ein Loblied auf den toleranten König, das alsbald in allen Gassen Englands gesungen wird. Doch als der König 1702 plötzlich stirbt und die ihm folgende Königin Anna wieder ein Gewaltragime befehligt, folgt für Defoe abermals ein Wellental. Wieder muß der unbeugsame Humanist und Aufklärer ins Gefängnis. Kaum der Freiheit wiedergegeben, glückt ihm als neuernanntem Diplomaten eine hervorragende politische Tat: die staatliche Vereinigung Englands mit Schottland. Indes wird in dem dauernden Auf und Ab seine Gesundheit untergraben, ohne daß sein Geist darunter gelitten hätte. In dieser Stimmung, die einmal zur Erregung ausartet und ihm einen Schlaganfall einträgt, schreibt er einen Roman, und das ist der Robinson Crusoe. Er ist so etwas wie die Bilanz von Defoes eigenem Leben in poetischer Verkleidung. Das Gerüst der Handlung übernimmt er von dem wilden, ungebildeten schottischen Matrosen Alexander Selderaig alias Selkirk, der sich vier Jahre und vier Monate lang auf eine einsame Insel im Pazifik zurückgezogen und ganz allein auf sich gestellt durchhielt. Defoe besuchte ihn nach seiner Rückkehr von der Insel und ließ sich Einzelheiten erzählen, die er dann im „Robinson“ dichterisch verwertete und ausgestaltete. Das fertige Manuskript fand lange keinen Verleger; erst als sich durch Vermittlung eines Freundes der Buchhändler William Taylor förmlich gnadenweise zum Druck bereit erklärte, erzielt Defoe nicht mehr als 10 Pfund Honorar. Der Verleger wurde durch den Welterfolg des zu Ostern 1719 erschienenen Romans rasch reich, gab aber dem durch einen Schandvertrag gedemütigten Autor nicht einen Cent mehr ab und war damit juristisch noch im Recht... Robinson Crusoe ist in einem meisterlichen, episch wertausholen-den Stil ohne artistische Mätzchen geschrieben, der natürlich in den mindestens fünfmal kürzeren Jugendausgaben, welche wir alle als Kinder verschlungen haben, und ungezählten Bearbeitungen in allen Sprachen der Welt keineswegs zum Ausdruck kommt. Die Nachahmungen und Variationen sind Legion. Es wurde unter dem Titel „Perle des Ozeans“ ein Lieblingsbuch der Araber. Es gibt nur ein Buch mit größerer Weitverbreitung, und das ist die Bibel.

Das Geheimnis des Erfolges liegt nicht nur in der liebevollen realistischen Kleinmalerei, sondern in der tiefen Sehnsucht der Menschheit nach der unverfälschten Romantik der Natur. Auch Theater (u. a. „Robinson darf nicht sterben“) und Fernsehen haben das ewige Thema ausgeschrotet, das in unserer heutigen lärmenden Übertechnik und Vollautomatik erst recht der Wunschtraum „Retournons ä la nature!“ — Ungezählter bleibt. Von welch echter Religiosität der Dissenter Defoe erfüllt war, beweist der Trost, den er Robinson in der geretteten Bibel finden }äßt, ebenso der an Freitag weitergegebene Gottglaube und die nach seiner Rückkehr und Verheiratung den Klöstern gespendeten Legate. Nach dem Erscheinen des „Robinson“ lebte Defoe noch zwölf Jahre, hatte aber mit den folgenden Romanen wenig Glück. Immerhin konnte er sich ein bescheidenes Vermögen erwerben. Er übertrug es zu Lebzeiten seinem ältesten Sohn, der aber den Eltern die festgesetzten Jahresgelder vorenthielt. Defoe, der unzähligen Kindern selige Stunden bereitete, starb aus Gram über die Hartherzigkeit seines eigenen Kindes am 26. April 1731. Auf seinem Grabstein steht: „Un-bestochne Treu, redliche Wahrheit, wann findet ihr einen, der ihm gleicht?“

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