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Ruf nach sozialer Tat

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Noch tönte in Köln am Rhein der festliche Klang des Domjubiläums, da kleidete sich weiter stromauf „das goldene Mainz“ bereits in ein Feiergewand: der 72. Deutsche Katholikentag begibt sich in dieser an Sage und Geschichte gleich reichen Stadt. Der Namenszug „Aurea Moguntia“, „Goldenes Mainz", leuchtete nicht allein im Stadtsiegel über die Jahrhunderte hinweg. Männer und Geschicke gaben ihm über Macht und Wohlstand, der um das 2. Jahrzehnt vor der Geburt Christi aus keltisch-römischer Niederlassung aufgeblühten Stadt hinaus, Dauer. Hier wurde der Leichnam des Drusus dem Flammenstoß übergeben. Hier wurde nach 34 Baujahren, am Tage seiner Weihung, dem 29. August 1009, der erste Dom ein Raub des Feuers, und erst 27 Jahre darauf konnte die neuerrichtete herrliche sechstürmige Kathedrale, heute die älteste am Rhein, dem heiligen Martin zu Ehren die Beter umfangen. Friedrich Barbarossa mehrte die Zahl der Reichstage und Feste, die Mainz erlebt, um das prächtige Turnier, das die Schwertleite seiner Söhne schmückte und zu dem an die 70.000 Ritter herbeigeeilt waren, darunter Heinrich von Veldeke, der erste Sänger deutscher Zunge. Philipp von Schwaben wurde hier 1198 mit der Krone Karls des Großen bekrönt, und dabei weilte Walther von der Vogelweide an seiner Seite. Heinrich von Meißen, der geliebte Sänger Frauenlob, schläft, von edlen Frauen zu Grabe getragen, neben 35 Kirchenfürsten im Kreuzgang des Domes. Der Rheinische Städtebund trat zu Mainz ins Leben und brachte dem Lande von Basel bis Köln Schutz gegen das Faustrecht. So kann die Stadt in der Tat in einer ansehnlichen Chronik blättern.

Doch weit bekannter als dies alles wurde der Name und das Werk des Meisters Gutenberg, die Buchdruckerkunst, die von Mainz her auf unblutige Art die Welt — und nicht nur die des Geistes — revolutionierte. Und wenn etwas den Goldglanz der Stadt heute noch zu wahren vermag, dann ist es dieser gewaltige Beitrag zur abendländischen Kultur. Ansonst löschten Dynamit und Phosphor sehr viel aus, was an die Vergangenheit der Stadt gemahnte, und die Gäste, die ins „goldene Mainz“ kommen, werden nicht leicht eine Herberge finden. Doch sie verspüren, daß Mainz von nicht minderem Lebenswillen durchströmt ist denn Köln; die wiedererstandene Universität bezeugt es. Insbesondere aber tut es der 72. Deutsche Katholikentag. Ihm, der sich zu denkwürdiger Stunde begibt, fällt entscheidende Bedeutung zu. Nicht allein jene Männer und Frauen, die den großen Veranstaltungen beiwohnen, tragen eine besondere Erwartung im Herzen. Auch die vielen Millionen Katholiken, die sich dem Mainzer Geschehen verbunden fühlen, sind voller Hoffnung. Erwartung und Hoffnung aber sind darauf gerichtet, daß der Ruf nach sozialer Tat, der durch deutsches Land geht, zu Mainz in einen energischen Schritt zur sozialen Tat verwandelt werde. Denn sie alle fragen sich, wie Deutschland fortan leben kann, wie es eine Zukunft hat — und was der Christ tun muß, Deutschland eine Zukunft zu gewinnen.

Zwei führende Männer versuchten eben noch darauf zu antworten. Der eine erklärte: „Die christliche Sozialethik, sofern sie überhaupt etwas vermag, bedarf einer Schwenkung um 180 Grad. Wir Christen werden marxistisch handeln müssen, ohne uns den marxistischen Ideologen zu ergeben." Der andere forderte: „Uns Christen bleiben nur zwei Wege handelnden Eingreifens. Wir müssen sie beide gehen. Wir müssen Christen sein und nach den ökonomischen Erkenntnissen der Marxisten handeln.“ Keine dieser Antworten brachte die einwandfreie Klarheit für die Praxis. Die christlichen Ar beiter, Siedler und Kleinbauern drängten auf positive Begegnung mit der praktischen Sozialreform, auf eindeutige Entschiedenheit und wirkliche Tat. Mainz soll dazu durchstoßen und so das Vermächtnis des Mannes erfüllen, der auf dem 1. Deutschen Katholikentag in diesem Mainz im Oktober 1848 in der Sprache seiner Zeit die gleiche Forderung erhob: Pfarrer W. E. Freiherr von Ketteier, der spätere Bischof von Mainz.

Drei Probleme lagen damals den Mitgliedern des „Katholischen Klubs“ der Frankfurter Nationalversammlung und den anderen Teilnehmern an der ersten „Generalversammlung der Piusvereine", Vereinigungen katholischer Laien, in Mainz am Herzen: die kirchliche Freiheit, die Einheit des Reiches unter Führung Österreichs und die besorgniserregenden sozialen Verhältnisse der Arbeiter. Aber die Probleme der Freiheit und Einheit überwogen das dritte, und Ketteier wirbelte viel Staub auf, als er mit warnendem Finger auf die schwärende Wunde der Zeit deutete. Über die grundlegende Umwälzung im wirtschaftlichen - und sozialen Leben, über die rastlos vorwärtsschreitende Industrialisierung hinaus sah Ketteier die Schuld des Menschen, der sich ohne Rücksicht auf die Rechte des Nächsten, auf Gerechtigkeit und Liebe hemmungslos einer Männer, Frauen und selbst Kinder ausbeutenden Gewinnsucht überließ. Wie kaum ein anderer seiner Zeit überschaute er zugleich die Bedeutung und Wirksamkeit des von Karl Marx verkündeten Kommunistischen Manifests. In seinen berühmt gewordenen Adventpredigten verdichtete Ketteier noch das dem Katholikentag Gesagte, und sein unermüdlicher Eifer zeitigte Frucht. Die katholisch-soziale Bewegung kam ins Rollen, die Entwicklung der christlichen Sozialarbeit, ja der deutschen Sozialpolitik erfuhr von ihm nachdrücklichen Antrieb. Der Gedanke christlicher Caritas, den Ketteier neben seiner sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Aufgabe verfolgte, und der zugleich auf protestantischer Seite vom Begründer der Inneren Mission, Johann Hinrich Wiehern, verfochten wurde, breitete sich aus. Und selbst die großen Sozialenzykliken der Päpste dürfen in gewissem Sinne als „die Weiterführung und Vervollkommnung der. Ideen“ gelten,, die Ketteier auf dem Mainzer Katholikentag 1848 als erster aus katholischer Schau zu formulieren versucht hat.

Kettelers Anstoß bedeutete viel, aber er konnte nicht entscheidend die Entwicklung bestimmen. Minister Dr. Adolf Süsterhenn glaubte in „Begegnung“ Nr. 8 sagen zu müssen: „Rückschauend müssen wir deutschen Katholiken von heute, die wir uns anschicken, das hundertjährige Gedenken an den ersten Deutschen Katholikentag in Mainz festlich zu begehen, feststellen, daß die großen Probleme, die das Jahr 1848 sichtbar herausgestellt hat, zwar von unseren Vorfahren klar erkannt worden sind, jedoch zum Teil nur gelöst werden konnten, und daß auch diesen Teillösungen die geschichtliche Dauer versagt geblieben ist.“ Jüngere Katholiken formulieren schärfer: „Wir haben versagt, wir wissen wenig und können nicht viel — das müßte der Grundton des ersten neuen Deutschen Katholikentages sein —, dies und die gläubige Hoffnung auf den, der allein das Antlitz der Welt erneuern kann.“ Walter Dirks schrieb es in seinen . „Frankfurter Heften“, und er hat die soziale Frage, die Stellung des Christen zum Sozialismus im Auge.

„Nicht klagen — handeln!" Diese Losung steht nun dem 72. Deutschen Katholikentag voran. Sie ist wichtiger zu nehmen, als sie klingen mag. Sicherlich hätte die große Zusammenkunft Anlaß, zu klagen — nicht über Verwüstung und Not im Lande an Rhein, Ruhr, Main und Elbe, sondern über eigene Bequemlichkeit und Verzagtheit, die an alledem teilhaben. Nun bedarf es der Tat, es bedarf der Gemeinschaft aller, die sich eins und aufgerufen wissen zur Erfüllung der

Bergpredigt als des allein gültigen „Manifeste“, zur Tat.

In solchem Sinne dürfte der 72. Deutsche Katholikentag sich selbst und seine Losung verstehen. So verstehen und begleiten ihn die deutschen Katholiken.

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