6660799-1960_05_08.jpg
Digital In Arbeit

Bomben, Glas, Kupferberg Gold

Werbung
Werbung
Werbung

DER WIND WEHT VOM RHEIN HER. In der kalten Jännerluft liegt ein Geruch, der an verbrannte Ziegel erinnert, und jener feine Staub dringt in Augen und Nase, der den Bewohnern bombenverwüsteter Städte aus der ersten Nachkriegszeit wohl immer im Gedächtnis bleibt. „Das kommt von der Zementfabrik“, meint jemand, dessen Weg öfter nach Mainz führt. „Seien wir froh, daß nicht Sommer ist, bei Wind ist es dann oft ganz arg.“ Vielleicht hat unser Land und Leute kundiger Gesprächspartner recht. Wahrscheinlich sogar. Aber es könnte genau so die erste Überlegung der Wahrheit entsprechen. Das Bild, das sich dem österreichischen Besucher bei der Einfahrt in die alte Kurfürstenstadt, die sich rüstet, im Jahre 1962 ihren 2000. Geburtstag zu feiern, bot, war etwas beklemmend: Keine Straße, keine Häuserzeile, die nicht heute noch deutlich sichtbar die Male der Verwüstung trägt. 80 Prozent total zerstört: das war das erschütternde Fazit, das die Bürger von Mainz ziehen mußten, als sie, nachdem die letzte Bombe des zweiten Weltkriegs gefallen, der letzte Schuß über dem Rhein verhallt war, aus den verschonten Kellern' wieder' ans. Tageslicht stiegen oder von' weit her der alten “HeTniatstadt zustrebten.' „Goldenes Mainz“: so hieß die Stadt einst in der Zeit ihrer größten Blüte. „Armes Mainz“: so mußte man wohl in der Vergangenheit öfter sagen. Die Geschichte des wichtigen römischen Militärstützpunktes Mogontiacum gegenüber der Mainmündung kennt mehr düstere als helle Tage. Es ist eine Geschichte, in der oft eine Besatzung die andere abgelöst hat. Auch Österreich hat seinen Beitrag dazu geleistet. Vom Wiener Kongreß bis zum Jahre 1866 war Mainz Bundesfestung des Deutschen Bundes. Ein preußisches und ein österreichisches Truppenkontingent lag gleichberechtigt in ihren Mauern. Jedes halbe Jahr wechselte der Vorsitz in diesem „Alliierten-Rat im Kleinen“ zwischen einem preußischen und einem österreichischen General. Pickelhaube und Tschako drückten sich das Gewehr in die Hand, der Hohenfriedbergerund der Radetzkymarsch wechselten einander ab . . . Vergangene Zeiten. Sie sind längst vergessen und vergeben. Selbst die Tat des liebestollen österreichischen Kanoniers, der aus Rache für den Korb eines Mainzer Mädchens den Pulverturm und mit ihm ein Drittel der Stadt in die Luft jagte. Diese Wunde ist längst vernarbt — andere bluten noch. Der letzte Militär, der entscheidend in die Geschichte der Stadt Mainz eingriff, war niemand anderer als General Eisenhower, als er kurz und bündig den Rhein zur Demarkationslinie zwischen der amerikanischen und der französischen Besatzungszone erklärte. So ist Mainz bis zum heutigen Tag nach Berlin die zweite geteilte Stadt Deutschlands. Der Stadtkern bildet gleichzeitig die Hauptstadt des Bundeslandes Rheinland-Pfalz, die östlich des Rheins gelegenen Industrievorstädte aber gehören heute zum Bundesland Hessen. Die gesprengten Brücken über den Rhein wurden alle wieder aufgebaut. Aber für die „Wiedervereinigung“ von Mainz fand sich kein Brückenschlag. Warum? Pst! Ganz geheim: In Rheinland-Pfalz residiert die CDU, Hessen aber ist „rotes“ Bundesland. *

GLÜCK UND GLAS: WIE LEICHT BRICHT DAS. Sehr wohl kennt man hier in Mainz dieses alte deutsche Sprichwort. Und doch — mit dem Glas begann auch wieder ein neues Glück. „Wir stehen hier auf einer zwei Meter hohen Schuttdecke. Unser ganzes Werk erhebt sich auf ihr.“ Ungerührt ist die Stimme des Ingenieurs,der uns durch das 1952 vollendete neue Werk des Jenaer Glaswerkes Schott und Genossen führt. Es klingt so, als ob er vom Schutt der Römerzeit spräche, aber er meint den Schutt jenes Mainz', in dessen Mauern die heute Erwachsenen noch als Kinder spielten. Für den vorwärtsdrängenden Blick einer Generation deutscher Techniker und Wirtschafter ist aber diese Haltung charakteristisch. Aus dieser Gesinnung ist das ganze, an der Straße nach Mom-bach gelegene Werk entstanden, das heute mit 3800 Arbeitern und Angestellten nicht nur das größte Industrieunternehmen der pfälzischen Landeshauptstadt darstellt, sondern den wirtschaftlichen Wiederaufbau von Mainz entscheidend angekurbelt hat. Hier in Mainz endete die Odyssee der 41 Glasmacher, die eine Order der Amerikaner in Jena, kurz bevor sie in der thüringischen Industriestadt den Truppen der Sowjetarmee Platz machten, zum Mitkommen veranlaßt hatte. Damals war Japan noch im Kriege, und Männer, die in die Geheimnisse der Herstellung von optischem Glas eingeweiht waren, standen bei jeder kriegführenden Macht in hohem Kurs. Japan kapitulierte, und auf die Glasmacher, mit Dr. Erich Schott an der Spitze, vergaß die Weltgeschichte. Nicht vergaß sie aber, in Gestalt des neuen Regimes in Ostdeutschland, auf das weltberühmte Werk in Jena. VEB (Volkseigener Betrieb) war das Schicksal des Werkes, das Dr. Erich Schotts Vater, Dr. Otto Schott, 138 3, gemeinsam mit dem Direktor der Jenaer Sternwarte, Ernst Abbe, und Carl und Roderich Zeiss, als „Glastechnisches Laboratorium Schott und Genossen“ gegründet hatte. Von hier gingen die Produkte des Mannes, der seit 1879 im Keller seines Vaterhauses den „Gläsern ins Herz geschaut“ und dabei die Grundlagen für die moderne Glaschemie erarbeitet hatte, in alle Welt. Neues, den Schwankungen der Temperatur widerstehendes Thermometerglas machte den Anfang. „Verbundgläser“ für die Wasserstandsröhren der Dampfkessel folgten. Auers Glühstrumpf wurde erst durch die Schottschen sprungsicheren Gläser ein Welterfolg. Dreißig Jahre nach Beginn führte der Jenaer Katalog 200 verschiedene Schott-Gläser für Optik und Medizin und die gesamte Wirtschaft. Die in der Zwischenkriegszeit einsetzende Eroberung der Küchen durch das feuerfeste Jenaer Glas verschafften der Produktion Popularität in der breiten Öffentlichkeit. Und das sollte nun zu Ende sein? Dr. Erich Schott und seine Mitarbeiter sagten nein. Sie blieben zusammen. Sie begannen in der kleinen Filiale des alten Werkes in Zwiesel (Bayrischer Wald) von neuem — und sie schafften es. Mehrere tausend Tonnen Spezialgläser für die verschiedensten Zwecke der Wissenschaft, der Technik und der Wirtschaft verlassen heute im Monat das Hauptwerk in Mainz. Hier arbeiten die archaisch anmutenden Gestalten der Glasbläser neben vollautomatisierten Anlagen, die 70 Prozent der Produktion ausstoßen. Gleichzeitig wurde der Kampf um die Sicherung der Patente auf allen Märkten erfolgreich geführt, so daß es international bekannt ist, daß Jenaer Glas heute aus Mainz kommt. Der an der Schwelle des siebenten Jahrzehnts stehende Mann, der die zweite Gründung des Lebenswerkes seines Vaters mit gutem Fug und Recht auf sein Konto schreiben kann, wehrt alle Anerkennungsbezeigungen ab: „Der Umgang mit Glas erzieht zur Philosophie. Er macht bescheiden “

DIE DEUTSCHE WIRKLICHKEIT DES JAHRES i960 hat viele Gesichter. Ein tragischernstes, wenn man vor dem geschlossenen Tor des schwer mitgenommenen Doms in Mainz steht, das sich erst nach der Vollendung der Renovierungsarbeiten öffnen soll. Ein mutigentschlossenes, wenn man sich in Erinnerung ruft, was man soeben in dem Werk des Doktor Schott und Genossen gesehen und gehört hat. Die deutsche Wirklichkeit 1960 kann dem Besucher auch verspielt, ja ein wenig skurril begegnen. Auch diese Begegnung ist in Mainz möglich. Man braucht nur einige Stockwerke unter die Erde in die Kellereien der altrenommierten Sektfirma Kupferberg steigen und fühlt sich plötzlich in die Blütezeiten des „Simplizissimus“ und der „Muskete“ versetzt.

Die großen Lagerkeller tragen die Namen von Bismarck, Moltke, Roon und anderer Männer des Zweiten Kaiserreiches, das hier in der Kellerei von Kupferberg mitvorbereitet wurde — hatte doch tatsächlich das Auswärtige Amt während des Krieges von 1870/71 seinen Sitz in den Räumen des Hauses Kupferberg genommen. Über die Verbindung von deutscher Diplomatie und Sekt ließe sich eine kleine ge-schichtsphilosophische Meditation anstellen. Doch, nein, hören wir lieber den Ausführungen von Herrn Kupferberg zu, der seine Besucher nicht nur in die Mysterien der Sektkultur, sondern auch in neue Produktionsmethoden einweiht. Zum Schluß gibt er sein einem ostdeutschen Reporter gegebenes Patentrezept für die detitsche Wiedervereinigung preis: „Deutsche an einen Tisch, und auf den Tisch Kupferberg Gold.“

„In einem Jenaer Glas“, ergänzt ein Besucher. „Aus Mainz selbstverständlich!“ sekundiert ihm ein zweiter.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung