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Sozialversicherung in Alt-Wien

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Ehe das österreichische Krankenversicherungsgesetz mit 6. Juli 1888 in Wirksamkeit trat, bestand nur eine beschränkte Fürsorge für die Arbeitnehmer, die auf den Gesindeordnungen beruhte; nach diesen hatte der Dienstgeber durch viei Wochen für die Pflege und Heilung des erkrankten Dienstpersonales aufzukommen. Das Hofkanzleidekret vom 18. Februar 1837 bestimmte, daß diese Verpflichtungen in gleichem Umfang auch die Fabrikanten, Gewerbetreibenden und Kaufleute zu übernehmen hatten. Vorher gab es außerhalb des kirchlichen Bereiches — in dem Caritas und Fürsorge seit jeher ihre Pflegestätte •gefunden hatten — keine öffentliche Einrichtung der sozialen Fürsorge.

Doch besaß Wien schon lange vorher — wieder in engem Zusammenhang mit der Kirche — eine auf organisierter Selbsthilfe beruhende genossenschaftliche Fürsorgeeinrichtung, die bis um das Jahr 1721, also-bis vor 225 Jahren, nachweisbar ist und wohl als die erste Krankenkasse Wiens angesprochen werden darf.

Sie wurde um das Jahr 1721 bei dem Mittel (Gremium, Genossenschaft) der bürgerlichen Seidenzeug-. Dünntuch- und Samtmacher, an das sich später auch die übrigen Seidenzeugfabrikanten (Bandmacher, Schalerzeuger, Seidend.enillenerzeuger usw.) anschlössen, ins Leben gerufen, gespeist aus vierteljährlichen Beiträgen, „Auflage“ genannt, die von den Meistern und Gesellen geleistet und in einer Lade, der „Krankenlade“, aufbewahrt wurden; ihre Verwaltung war einem „von dem Mittel auszeichnend geachteten Bürger und Meister“ anvertraut, dem ein zweites Mitglied des Mittels und zwei Gesellen als Beisitzer zur Seite standen; die Leitung der Krankenkasse war also, wie wir heute sagen würden, „paritätisch“ zusammengesetzt Diesem „Vorstand“ der Kasse wurde später auch noch ein „Ansager“ und ein Prozessionsführer beigegeben.

Die Leistungen der Kasse waren ganz neuzeitlich: die erkrankten Gesellen erhielten ärztliche Hilfe und die nötigen Heilmittel, wenn nötig, auch Spitalspflege; nach Gründung des Allgemeinen Krankenhauses war dieses, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, „Vertragsanstalt“. Außerdem erhielten die erkrankten Gesellen wöchentlich zwei Gulden Krankengeld solange auf die Hand, „bis sie nach erlangten Kräften für ihren ferneren Erwerb fähig geworden“ waren. Im Sterbefalle wurden für das Leichenbegängnis und für eine Seelenmesse 21 Gulden ausbezahlt. Wenn man die damalige Kaufkraft eines Guldens in Betracht zieht, so dürfen die Leistungen als recht beträchtlich bezeichnet werden.

Bekanntlich waren die Seidenzeugmacher später vorzüglich in der Vorstadt Schottenfeld zu Hause; bevor diese entstand, waren sie in den Vorstädten St. Ulrich und Neustift-Neubau ansässig. In der Pfarre Sankt Ulrich entstand denn auch — wie erwähnt, um 172t — die Kasse, weshalb sie den Namen „St.-Ulrichs Casse“ führte und diesen Namen auch beibehielt, nachdem längst — im Jahre 1777 — die Gemeinde Schottenfeld entstanden und die im Jahre 1786 eingeweihte Pfarrkirche „Zum heiligen Laurenz auf dem Schottenfeld“ die zuständige Pfarre geworden war. Seit dem Jahre 1773 sind uns die Namen der Krankenkassenleitung bekannt; in diesem Jahre waren Joseph Beiwinkler Ober- und Hieronymus Pflacht Untervorsteher der Lade und die Altgesellen Johann Scharf und Ferdinand Steinbacher Beisitzer. Die Kasse hatte damals 200 Mitglieder; da die Seidenaeug-macherei zu dieser Zeit noch verhältnismäßig in den Kinderschuhen steckte und erst im josephinischen Zeitalter zu großer Blüte kam, um dann in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts mit der zunehmenden Industrialisierung ihren Höhepunkt zu erreichen, betrug später die Mitgliederzahl zweifellos ein Vielfaches der anfänglichen Zahl. Es gab doch zum Beispiel im Jahre 1839 nur im Bereiche der Gemeinde Schottenfeld bei 300 Seidenzeug-macher, von denen die meisten Dutzende von Gesellen hatten; die Kasse mag also damals etliche tausend Mitglieder gehabt haben. Ihr Wirken mag sehr segensreich gewesen sein, es wird im Denkbuche der Pfarre Schottenfeld sowohl 1826 wie 1839 mit großem Lob erwähnt. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stand ihr der bürgerliche Seidenzeugfabrikant Leopold Hutterstrasser, „Hausinhaber im Schottenfeld Nr. 257“ (heute Schottenfeldgasse Nr. 85) vor.

Wie lange die „St.-Ulrichs-Casse“ bestand, das heißt, wann und warum sie ihre Tätigkeit einstellte, läßt sich aus den Aufzeichnungen nicht feststellen. Nur einen Anhaltspunkt dafür gibt die Chronik der Pfarre — Atzgersdorf. Es stand einst an dem Wege von Atzgersdorf nach Speising ein Wegkreuz, das im Türken jähre 1683 zertrümmert wurde. Nach Abzug der feindlichen Horden fanden die rückkehrenden Atzgersdorfer die Trümmer ihres Wegkreuzes auf einem Unrathai*fen. Aus diesen Stücken wurde das Kreuz 1684 an seinem alten Standort wieder aufgerichtet. Die Volkstümlichkeit, die hinfort das Atzgersdorfer „Fieberkreuz“ gewann, führte viele Pilger zu seinen Füßen; unter den Wallern waren auch Prinz Eugen, Kaiserin Elisabeth Christine, die Gemahlin Karls VI., und Maria Theresia. Die Pilgerfahrt zu dem Kreuze, das über Anordnung des Erzbisehofs Kardinal Migazzi 1761 in die Pfarrkirche übertragen wurde, wo es heute noch über dem Hochaltar sich erhebt, wurde unter den Angehörigen des Seidenzeugmachergewerbes zu festem Brauch. Vom Jahre 1755 an bis 1868 zog Jahr um Jahr am fünften Sonntag nach Ostern die Mitgliedschaft der St.-Ulrichs-Casse unter Führung zweier Priester der Pfarre St. Ulrich zum „Fieberkreuz“. In der Atzgersdorfer Pfarrkirche hängt heute noch ein Bild, das die Prozession der Seidenzeugmacher und ihrer Gesellen vom Jahre 1843 darstellt.

1869 wurde die Wiener Prozession, wie alljährlich, in Atzgersdorf vom Pfarrer und einer großen Menschenmenge erwartet, allein sie blieb aus. Da nun auf Grund des Verc:nsg'setzes von 1867 eine rasche Entwicklung der genossenschaftlichen Unterstützungsvereine der Arbeiter einsetzte, darf angenommen werden, daß sich die alte St.-Ulrichs-Casse aufgelöst hatt' und dem Zuge der Zeit folgend, in einen solchen Unferstützungsverein überführt wurde, bis auch dieser auf Grund des Krankenversicherungsgesetzes vom 6 Juli 1888 durch die neuerrichtete Bezirkskrankenkasse abgelöst wurde.

Jedenfalls hat diese erste gewerbliche Krankenkasse Wiens andcrthalbhundert Jahre lang als freie soziale Schöpfung ihre Aufgabe erfüllt, weit ihrer Zeit voran durch ihr Programm und ihre Leistung.

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