Auf ein Wort
Jeder Zuschauer ein Reporter: Zur Angelobung von Barack Obama hat der US-Nachrichtensender CNN weltweit jedermann eingeladen, den für ihn/sie berührendsten Moment dieses unvergesslichen Tages festzuhalten. In Wort oder Bild.
Vielleicht bin ich aus dem persönlichen Erleben vergangener Inaugurations schon zu sehr abgebrüht; kenne die erhebenden Ritualien des Amtseids, der Hymnen und Gebete. Kenne die Beschwörungen von Hoffnung und Wandel, von Gemeinschaft, Wohlstand und Freiheit, die unvermeidbar mit diesem Hochamt der amerikanischen Demokratie verbunden sind. Kenne die Emotionalität dieser Stunden, in denen sich Wunden schließen und das, was gebrochen ist, wieder zusammenfügt. God bless America: An diesem einen Tag - und zu oft nur an diesem - scheint der amerikanische Traum tatsächlich Wirklichkeit zu sein.
Dabei sein war alles
Hätte ich mich an diesem Dienstag bei CNN gemeldet, um meinen schönsten Moment zu beschreiben, er wäre ohne Obama, ohne Posaunen und Glockengeläut ausgekommen. Er war sechs Stunden vor der Angelobung. Über Washington lag noch das Dunkel einer bitterkalten Nacht, durchbrochen nur von ersten, zartgelben Lichtstreifen am Horizont. Zwischen Obelisk und Capitol aber standen schon zehntausende Menschen, die sangen, lachten und tanzten. Wissend, dass sie ihren neuen Volkshelden zuhause vor ihrem Bildschirm weit besser zu sehen bekämen - und doch überzeugt davon, dabei sein zu müssen. Weil hier Geschichte geschrieben würde. Weil sie Teil und Zeuge dieser Geschichte sein wollten.
Wie oft haben wir Europäer die Amerikaner belächelt, ja verspottet: Naiv im harten politischen Geschäft seien sie. Und jedenfalls mit viel zu viel semireligiösem Pathos. Und wie überzeugt waren wir, dass es Jahre brauchen würde, bis die Schäden der Ära Bush - politisch und geistig - beiseitegeräumt sein würden. Bis wir Europäer wieder Vertrauen fassen und Nähe finden könnten.
Jetzt erleben wir: Etwas Faszinierendes ist zuletzt in Amerika passiert. Es ist möglich geworden, weil dieses große Land (nicht zum ersten Mal) eine beneidenswerte Fähigkeit besitzt, sich selbst zu regenerieren. Weil es inmitten seiner Vielfach-Krise einen Mann gewählt hat, der nicht nur das Zeug zum Wandel hat. Der es auch schafft, in den Menschen Ressourcen zu mobilisieren, die wir alle in uns tragen. Der erfolgreich an die Fähigkeit seiner Mitbürger appelliert, über sich selbst hinauszuwachsen.
Eine neue Generation
Wir haben es staunend gehört: Noch nie waren so viele US-Bürger bei Wahlkundgebungen. Noch nie haben so viele Millionen kleiner Spender zu einem Wahlsieg beigetragen. Noch nie sind so viele zur Amtseinführung gekommen. Eine neue Generation - jung und in jeder Hinsicht vielfarbig - hat ihr Interesse an Politik neu entdeckt; lässt sogar wissen, dass sie damit zu tun haben will. Auch über den Tag der Angelobung hinaus.
"Sieht unser Europa nicht plötzlich ganz alt aus?", hat eine Anruferin im ORF-Hörfunk an diesem hoffnungsvollen Tag gefragt. Noch vor Kurzem wäre uns diese Frage nicht in den Sinn gekommen. Jetzt ist es gut, darüber nachzudenken.
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