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Einheit in der Vielfalt

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Wenn wir auch heute die Reichsideen des Cusaners, die von ihm in bezug auf die gesamte Menschheit formuliert wurden, noch in keine ernsthafte Erwägung ziehen können, so ergibt sich die Aktualität seiner Kirchenlehre angesichts der neuzeitlichen Kirchengeschichte und des gegenwärtigen Konzils von selbst; vor allem dann, wenn wir auch noch die anläßlich der Eroberung Konstantinopels und aus der Betroffenheit von der Möglichkeit eines Religionskrieges geschriebene Schrift „De pace fidei” berücksich- tigen.

Für den universal denkenden Cusaner bildet nicht nur die Kirche aus der Einheit Christi eine ganzheitliche Wirklichkeit, sondern sie selbst ist dem Ganzen der Schöpfung eingeordnet bzw. diese auf sie hin begründet. Damit ist aber die Menschheit außerhalb der Kirche Christi keine Nicht-Kirche, sondern mögliche Kirche, weshalb ihre „Religionsform” nicht nur anerkannt, sondern zugleich auch als Weg zur Einheit in Christus und zu dem einen allgemeinen Glauben an ihn betrachtet werden muß. Cusanus spricht von der „una religio in ritum varietate”, von der einen Glaubensverbundenheit in der Vielfalt der Riten und Gebräuche.

Mögen die Anstrengungen der vor dem einen Wort (Christus) versammelten Vertreter aller Religionen und deren — im Himmel — geschlossener allgemeiner Religionsfriede in dieser Welt auch eine Utopie darstellen, für die auf Ausbreitung und Wachstum hin geschaffene Menschheit (vgl. Gen. 1,28) und für die auf Sendung und Leben hin gegründete Kirche Christi (vgl. Mt. 28, 19) sind sie eine reale Utopie, die — als Vorbild dem Denken erschlossen — handelnd erstrebt werden muß.

Bischof von Brixen

Cusanus, der in der konkreten Situation des Basler Konzils mißverstanden wurde, sah sich gezwungen, um der Einheit und Universalität willen, der das Konzil eigentlich dienen sollte, in der Folge zur päpstlichen Partei überzutreten; ein Schritt, der ihm bis heute übelgenommen wird, der aber dennoch allein der Konsequenz seines Denkens und Gewissens entsprach. In der Tat wurde damit jenes Wirken eingeleitet, das sich als Wille zum Ganzen in den nunmehr einsetzenden reformatorischen Bemühungen fruchtbar erwies. So gelang es dem Cusaner durch sein Auftreten auf mehreren Reichstagen, die Neutralität des Reiches zugunsten des Papsttums und damit zugunsten der Einheit zu überwinden. Ferner bereiste er — 1448 zum Kardinal ernannt — als päpstlicher Legat (1451/52) fast das ganze Reichsgebiet. Seine Intention dabei war: „Wie kann ich Christus dem Volke als Weg und Türe zum Reiche des Lebens verkünden?” Wichtiger noch als seine Tätigkeit war zunächst die Hinkehr seines Denkens zur Docta ignorantia, ohne die das Ganze weder gedacht noch in der erstrebten Weise verwirklicht werden kann. Der Gedanke selbst kam ihm, gleichsam „als Geschenk von oben”, als er 1437 von den vorbereitenden Unionsverhandlungen, an denen er teilgenommen hatte, „auf dem Meere von Griechenland zurückkehrte” (so im Begleitbrief zu „De docta ignorantia”, Schriften I, p. 517).

Nikolaus V. ernannte den Cusaner 1450 zum Bischof von Brixen. Kann sein bisheriger Lebensweg im großen und ganzen — zumindest für den Augenblick — als einziger Erfolg betrachtet werden, so sollte er nunmehr am eigenen Leibe erfahren, was wenige Jahrzehnte nach seinem Tod für seine gesamte Wirksamkeit zutraf: Der Oberhirte stieß bei seinem von der geistigen Aufgabe motivierten Reformwillen nicht nur auf den hartnäckigen Widerstand der Betroffenen, sondern mußte (zum Teil auch deshalb, weil er formaljuristisch berechtigte, zeitgeschichtlich gesehen jedoch unangebrachte Hoheitsansprüche als Kirchenfürst geltend machte), der Waffengewalt Sigismunds von Tirol weichend, 1458 sein Bistum verlassen. Damit noch nicht genug, auch in Rom, wo er von seinem Freund Pius II. zum Generalvikar bestellt worden war, stieß sein Appell für die Einheit des Glaubens in Denken und Tun nur auf die besserwissende Gleichgültigkeit der kurialen Praktiker.

Waren damit Wirken und Handeln an seinem Willen zum Ganzen zerbrochen? Gemäß der Intention seines Wesens verfaßte Nikolaus von Kues bis zuletzt philosophisch-theologische Werke und Schriften. Bis zuletzt auch hielt er — existentiell verifizierend — sein Denken als Denken des Ganzen und der daraus in Docta ignorantia resultierenden Hoffnung aufrecht. Dann aber wurde er, auch wenn sein Begräbnis in der Anteilnahme der römischen Bevölkerung das des wenige Tage nach ihm verstorbenen Papstes bei weitem übertraf, vergessen. Die im nachfolgenden Jahrhundert einsetzende „Reformation” fegte über sein reformatorisches Werk, das als lebendiger Glaube aus der Einheit der Kirche Christi intendiert, nicht mehr wirksam geworden war, hinweg. Und selbst seine Schriften, die in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod viermal gedruckt wurden und die er als sein eigentliches Vermächtnis ansah, blieben in der philosophischen Tradition ohne Widerhall, bzw. sie fielen dem Vergessen anheim. Nur das Altersheim, das er in seinem Heimatort gebaut und eingerichtet und dem er seine Bibliothek anvertraut hatte, überstand die Wirren der Zeit und erfüllt noch heute seine ihm gestellte Aufgabe.

Vermächtnis für unsere Zeit

Durch die zerstörerische Macht zweier Weltkriege aufgerüttelt, vermögen wir heute zu begreifen, daß Nikolaus von Kues nicht äußerer Umstände wegen (Fehlen einer Schulrichtung, keine Ordenszugehörigkeit) von Kultur- und Geistesgeschichte in seiner umfassenden Bedeutung vergessen wurde; die Gründe dafür liegen in seinem Denken und dem daraus resultierenden Anspruch auf Weiterdenken und Handeln. Durch das Unvermögen seines eigenen Zeitalters1 ermöglicht, konnte das aus der Ganzheit des Glaubens kommende Denken die in der Zerissenheit der Epoche bloßgelegten Fundamente menschlichen Wesens und menschlicher Geschichte in einmaliger Gelegenheit zwar begreifen, selbst jedoch mußte es notwendigerweise unverstanden bleiben. Nichtsdestoweniger ist es im Halbschlummer von fünf Jahrhunderten Vermächtnis geblieben für jene Zeit, die sich erneut bemüht, den Sinn des Ganzen zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus zu handeln.

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