Spielplatz der Kulturen

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Wie erzählt literAtur für kinder und Jugendliche vom leben in einer multikulturellen geSellSchAft und ihren SoziAlen bedingungen?

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Wie erzählt literAtur für kinder und Jugendliche vom leben in einer multikulturellen geSellSchAft und ihren SoziAlen bedingungen?

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Ein Aquarienhaus ist ein Ort besonderer Stille. Was dort ausgesprochen wird, klingt gedämpft oder gar nicht nach außen oder spiegelt die stumme und daher immer ein wenig geheimnisvolle Artikulation des Wassergetiers. In einem solchen Aquarienhaus bauen zwei Mädchen an ihren Luftschlössern: Stell dir vor malt die eine der anderen aus, "stell dir nur vor, du kommst von der Universität zurück, mit einem Diplom in der Tasche - da müsste dein Vater doch platzen vor Stolz". Man schreibt die 1970er-Jahre und ein erster hoffnungsvoller Aufbruch in eine neue Zeit ist soeben gescheitert: Das türkische Gastarbeitermädchen Ülkü wird von ihrer Familie zurück in die Heimat geschickt. Noch am Tag zuvor waren Ülkü im Hexenkessel eines Spielplatzstreites die "Tschuschen fahrt's heim!"-Forderungen erboster Mütter um die Ohren geflogen. Und nun ist es tatsächlich so weit - denn für Ülküs Familie ist nicht relevant, dass das Mädchen begabt, sondern dass es anständig ist. Die Grenzen der Anständigkeit jedoch werden willkürlich gesetzt.

Als Erzählung und Dokumentation platziert Renate Welsh 1973 ihr Buch "Ülkü oder Das fremde Mädchen"(Verlag Jugend&Volk) im Zentrum des emanzipatorischen Aufbruchs der Literatur für Kinder und Jugendliche. Sprache wird dabei zum zentralen Moment, um Fremdheit literarisch begreifbar zu machen: Den apodiktischen Zuschreibungen, mit denen auf die neue Mitschülerin reagiert wird ("Die ist sicher ein Tschusch."), stellt Renate Welsh den Versuch des türkischen Mädchens gegenüber, sich in die neue Sprache einzufinden und mit ihr das fremde Umfeld zu begreifen. Mittlerinnenfigur ist dabei die Ich-Erzählerin Bärbel, die einerseits reportagenhaft und tagebuchartig wiedergibt, wie sich die Vorurteile gegenüber dem Fremden an Ülkü entzünden, und die sich andererseits mit Ülkü anfreundet und empathisch deren Hin und Her zwischen den Kulturen miterlebt.

Erschreckend aktuell

35 Jahre später haben sich die im Aquarienhaus ausgesprochenen Utopien durchaus verwirklicht; Missstände und Vorbehalte auf beiden Seiten eines interkulturellen Miteinanders jedoch sind auf erschreckende Weise aktuell geblieben, wenn Renate Welsh 2008 noch einmal ein Mädchen mit Migrationshintergrund in den Mittelpunkt einer Erzählung stellt. Diesmal jedoch sind es nicht die Traditionen der Herkunftskultur, die der Entwicklungsmöglichkeit des Mädchens Grenzen setzen, sondern der Staat Österreich: Den Geschwistern Pino und Esad droht die Abschiebung. Relevant dafür sind nicht ihr Grad an Integration oder ihre schulischen Leistungen; relevant dafür ist allein das Fremdenrecht. Bereits der Auszählcharakter des Buchtitels "Und raus bist du"(Obelisk 2008) verweist auf die Willkür der Abschiebepraxis, der Pino und Esad sich gegenübersehen, und mit der sogar weit hinter jene Möglichkeiten zurückgegangen wird, die Ülkü gehabt hätte: "Handschellen und ab! Zwei Koffer darf jeder mitnehmen. Zwei Koffer nach elf Jahren! Zwei Koffer, wie zum Abtransport ins KZ."

Der Wandel, den die Literatur für Kinder und Jugendliche in diesen 35 Jahren vollzogen hat, zeigt sich am Wegfallen der Mittlerfigur: "Und raus bist Du" bleibt ganz der Weltsicht von Pino und Esad verpflichtet. Geschehnisse, Handlungsraum und Sprache werden keiner objektivierenden Einordnung einer Erzählerfigur mehr überantwortet -auch wenn Renate Welsh ihren Text durchaus der Form des Lehrstückes verpflichtet. Nicht der Gestus des Vermittelns bestimmt das Erzählen, sondern das Umfeld und Erleben sowie die Weltsicht der Figuren.

Gerade die deutschsprachige Literatur für Kinder und Jugendliche in ihrer starken thematischen Orientierung jedoch löst sich dort, wo Fremdheit und Multikulturalität erzählerisch verhandelt werden, schwer aus ihrer Mittlerrolle zwischen erwachsener Weltsicht und kindlichem/jugendlichem Begreifen. Im Versuch, Ausgeglichenheit in der Frage nach dem Gemeinsamen und dem Trennenden gleichermaßen herzustellen, wird Parteilichkeit weitgehend vermieden.

Soziale Fremdheit

Einen zumeist sehr wohl parteilichen Standpunkt hingegen nehmen Jugendbücher ein, in denen aus spezifischen Milieus heraus erzählt wird und Fremdheit damit als Fremdheit der Sprachen, Kulturen und Traditionen, aber auch als soziale Fremdheit erscheint. Der britische Autor Bali Rai zum Beispiel verortet seine Jugendromane im multikulturellen Leicester und lässt seine Jugendlichen der dritten Generation pandschabischer Einwandererfamilien (wie auch Bali Rai einer ist) gehörig zwischen die Fronten der stark reglementierten familiären Traditionen und einer mitteleuropäischen Offenheit (und damit durchaus auch Beliebigkeit) geraten. Sowohl in seinem erfolgreichen Debutroman "(un)arranged marriage" ("Bloß (k)eine Heirat"; Sauerländer 2002) als auch in der dem Romeo&Julia Motiv folgenden Geschichte "Rani&Sukh" (Sauerländer 2006) werden seine jugendlichen Hauptfiguren auf den unterschiedlichen Erzählebenen ordentlich zwischen Großbritannien und dem Pandschab, zwischen den Zeiten, familiären Vorgaben und Rollenbildern und den daraus resultierenden persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten herumgeworfen.

Mehrfach begrenzt

Die Begrenztheit durch Lebensraum, Tradition und soziale Vorbedingungen erfahren sie dabei ebenso wie die fünfzehnjährige Doria, Hauptfigur des Erfolgsromans "Kiffe kiffe demain" der jungen französischen Autorin Faïza Guène, Kind algerischer Immigranten und aufgewachsen im Pariser Banlieue Seine Saint-Denis. Im Deutschen unter dem Titel "Paradiesische Aussichten" (Carlsen 2006) erschienen (leider ohne die Besonderheit des jugendsprachlichen Soziolekts des Originals), lässt Guène ihre Geschichte ebendort spielen - an der Peripherie der europäischen Wohlstandsgesellschaft. Illusionslos, aber nie lieblos ihren eigenen Lebensbedingungen gegenüber, schildert Doria das vielgestaltige Menschenpotpourri, das neben-und miteinander im Banlieue lebt. Mit trockenem Humor und angereichert mit zahlreichen Assoziationen aus der Medienwelt (in der südamerikanische Telenovelas und französische Talkshow gleichermaßen authentisch die Welt außerhalb des Banlieue verkörpern) führt Doria ihre eigene Geschichte erzählerisch mit jener ihrer Mutter parallel. Vom Vater alleine gelassen, der zurück nach Marokko gegangen ist, um mit einer neuen Frau erneut sein Glück bei der Zeugung eines Sohnes zu versuchen, alphabetisieren die beiden sich im wörtlichen wie übertragenen Sinn und finden sich zunehmend zurecht in einer Welt, die sie erst Schritt für Schritt als ihre begreifen. Das Überwinden oder gar Ignorieren von Schranken, die ihnen dabei gesetzt werden, wird dabei immer stärker zum Movens für Doria, die unaufgeregt und durchaus mit Selbstironie ihre Vorlieben und Talente erforscht.

Diese an "Paradiesische Aussichten" ablesbare Lust am Versuch sowie der Mut zur Erprobung kennzeichnen durchaus kinder- und jugendliterarische Werke, die ihre Geschichten im Umfeld kultureller und sozialer Fremdheit verorten, ohne sie als "problemorientiert" zu etikettieren -wie zwei Beispiele aus der niederländischen Literatur für Kinder und Jugendliche zeigen: In den Mittelpunkt seiner Polleke-Reihe (beginnend mit dem Titel "Wir alle für immer zusammen", Oetinger 2001) stellt der Autor Guus Kuijer (siehe booklet vom 5.12.08) ein heilsund glücksbringendes Mädchen, das in kindlicher Ernsthaftigkeit und Selbstbestimmtheit die scheiternden Lebenskonzepte ihrer Familie sowie ihres sozialen Umfeldes ausgleicht. Verliebt ist Polleke in Mimun, einen marokkanischen Jungen. Gleich zu Beginn scheint die Beziehung der beiden wegen jenes "Staubwedels" zu scheitern, den man in Mimuns Kultur auf dem Kopf tragen soll. In einem weiteren Band jedoch ist Polleke durchaus bereit, für Mimun das Tragen des Kopftuches zu erproben.

Kindliche Offenheit

Kindliche Offenheit, Naivität und Geradlinigkeit, mit der eine Figur wie Polleke der Welt begegnet, ermöglichen es Guus Kuijer, ein heikles Thema wortwörtlich zu überspielen und damit aus seinem politisch besetzten Kontext zu lösen und zu einem erzählerischen Motiv zu machen. Noch deutlicher nutzt Do van Ranst diesen Spielcharakter in seinem Kinderroman "Rabenhaar"(Carlsen 2008). Über lange Jahre hat eine Kindergruppe ihre Zeit im Erfinden kreativer, das Leben nachahmender Spiele miteinander verbracht. Nun bricht der letzte Sommer der Kindheit an und gespielt werden soll ein letztes Spiel: Hochzeit. Unvermittelt steht im Mittelpunkt dieses Spiels Fatima, deren Vater ihr einst die Zugehörigkeit zur kleinen Gemeinschaft der Spielenden verboten hat. Immer deutlicher mischt sich nun ins Spiel der Ernst -jener des Empfindens füreinander ebenso wie der Lebensernst, der Fatima befürchten lässt, von ihrem Vater verheiratet zu werden. Einmal im Leben jedoch möchte Fatima aus Liebe heiraten.

An die Stelle des Aquariums aus Ülkü ist in "Rabenhaar" eine sommerliche Scheune getreten - ein geheimer Ort da wie dort. Auch in der Scheune wird eine kindliche Utopie vorgetragen, die aus den Bedingungen des außerliterarischen Raums geboren ist und doch nur innerhalb des literarischen Raums Bestand hat. Der kindliche Glaube an Veränderbarkeit ist in beiden Fällen notwendigerweise ungebrochen.

Studientag

Ringparabel reloaded? Weltreligionen als Thema der Kinder-und Jugendliteratur Mit einer Lesung von Mirjam Pressler 10. Oktober 2009 / 9 -19 Uhr Club Stephansplatz 4 1010 Wien

einander fremd? Broschüre mit Buchempfehlungen zum Thema Integration in der Kinder-und Jugendliteratur Hg. von der Studien-und Beratungsstelle für Kinderund Jugendliteratur

Information: www.stube.at

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