Das Flugzeug hatte Verspätung gehabt, und ich war vom Hotel nur rasch ins Stadtzentrum geeilt, um irgendwo noch eine Kleinigkeit zu essen. Aber auf einmal wurde es enger und enger auf dem großen Platz. Tausende strömten aus den Gassen, wurden von den Nachdrängenden weitergeschoben, bis die Gläubigen den ganzen Rynek Glówny, den prächtigen Marktplatz mit der Marienkirche und den Tuchhallen, in ihren frommen Besitz genommen hatten. Es war der Abend des 2. April, um diese Stunde war vor einem Jahr Karol Wojtyla, der einstige Erzbischof von Krakau, in Rom gestorben. Ich schaute um mich: Da standen alte Mütterchen vom Lande und kühn geschminkte Mädchen in Miniröcken, Männer in meinem Alter, die wie Intellektuelle wirkten, und verwegene Burschen, die aussahen, als würde ihnen jeder Türsteher einer Discothek den Eintritt verweigern; proletarische Familienväter, die kleinen Kinder auf die Schultern gesetzt, und wackelige Greise, von denen es manchem so ergehen mochte wie mir mit meinem Hunger: wir fielen nur deswegen nicht um, weil einfach kein Platz dafür da war.
Dann begann irgendwo auf der anderen Seite des Platzes ein Megaphon zu krachen, und endlich war die tiefe Stimme eines Geistlichen zu hören, der mit immer neuer Inbrunst Gott, den Allerbarmer, anrief. Unterbrach er seine Litanei, ertönte aus der Richtung, in der er nicht zu sehen, aber zu vermuten war, der vielstimmige Gesang heller Frauenstimmen. Eingekeilt zwischen lauter Ergriffenen, glaubte ich ergriffen etwas von der Tiefe der polnischen Frömmigkeit und der Macht der polnischen Kirche zu verspüren. Endlich sah ich, 20 Meter entfernt, das schwankende Pulk der Fackeln, die Fahnen, das große Holzkreuz - die Prozession kam bei uns vorbei und nahm uns in ihrem Sog mit auf den Weg rund um die Kirche. Meine polnische Lesereise hatte begonnen, und ich würde zehn Tage nicht aufhören zu staunen.
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