Stimme der Zivilisation

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Vor 125 Jahren, am 3. September 1883, starb in Paris der russische Erzähler Iwan Sergejewitsch Turgenjew.

Die Neue Kraft will Kehraus machen. Alles, was in der alten Ordnung Bestand bewiesen hat, muss umgekrempelt, abgeschafft, in den Orkus der Geschichte befördert werden. Tabula rasa schwebt, als hemdsärmelige Arbeitsdevise, der Neuen Kraft vor. Altes Gerümpel stellt man vor die Tür, also werden die überkommenen Werte kultivierter Lebensführung kurzerhand entsorgt.

Insbesondere Literatur und Kunst sind unter den neuen Verhältnissen der aufgeblasenen Dynamik und vollmundigen Windmacherei überflüssig geworden. Die bewegenden Stoffe, mit denen zu beschäftigen sich auszahlt, sind jetzt naturwissenschaftlicher Fortschritt, technische Nützlichkeit und materielle Propaganda.

Die Neue Kraft mag es gern ungeschlacht, rücksichtslos, ohne Manieren. "Ein guter Chemiker", wird da etwa einem brüskierten Gastgeber entgegengeschleudert, "ist zwanzigmal nützlicher als jeder Poet." Weshalb die Neue Kraft, dieser selbsternannte Mann fürs Grobe, die Nachmittage denn auch am liebsten mit dem Sezieren von Fröschen zubringt.

Der "neue Mensch"

Die russische Literatur ist reich an kritischen Porträts selbstgefälliger Umstürzler und des vorgeblich "Neuen Menschen". Doch Turgenjews nihilistischer Zyniker Basarow, Hauptgestalt des 1862 erschienenen Romans "Väter und Söhne", übertrifft alle einschlägigen Figuren an zwiespältigem Eindruck und charakterlicher Ambivalenz. Sein Programm erschöpft sich in der Verneinung, eine Vorstellung vom Aufbau einer besseren Gesellschaftsordnung verweigert er: "Das soll nicht mehr unsere Sorge sein. Zunächst muss reiner Tisch gemacht werden."

Vom verwirkten Lebensrecht des Gutsherrentums schwadroniert Basarow - und kann für die anstehende Bauernbefreiung nur verächtliche Worte finden. Die Menschheit will er retten - und erkennt nicht einmal die abgründige Liebe und Einsamkeitsnot seiner alten Eltern. Ein auf seine rationale Unberührbarkeit stolzer Kaltblütler will er sein - und geht an seinen unkontrollierbaren Gefühlen für eine selbstgefällige Frau zugrunde.

Was wurde Turgenjew nicht gescholten, ja mit Hass und Verachtung verfolgt wegen dieses Protagonisten: von den Linken, die ihren revolutionären Furor darin verraten fanden, und von den Rechten, denen Basarow in dem Erzählwerk noch immer zuviel Licht, der abdankende Adel dagegen zuviel Schatten erhielt. Der verstörte Autor verließ daraufhin Russland endgültig, um sich nicht mehr nur als wohlhabender Reisender, sondern als Sesshafter zuerst nach Deutschland, dann nach Frankreich zu begeben, wo er bis zu seinem Tod, am 3. September 1883 im Alter von 65 Jahren, lebte.

Prowestler und Slawophile

Seine entschieden liberale Haltung, die er in dem (bis heute) tobenden innerrussischen Kampf der Slawophilen gegen die Prowestler eingenommen hatte, legte er 1867 in der Exilgeschichte "Rauch" seiner Romangestalt Potugin in den Mund: "Ich bin Europa oder, genauer gesagt, der Zivilisation ergeben … Dieses Wort ist rein und heilig, während andere Wörter, zum Beispiel, Volk' oder …, Ruhm', nach Blut riechen …"

Nach Blut riecht der Gebrauch von Geschichte als Kriegsgrund, der den mörderischen Kreislauf nationaler Unterdrückung und revanchistischer Rache in Gang hält, am Balkan, im Kaukasus oder anderswo. Zwei Jahre vor "Väter und Söhne" hatte Turgenjew im Roman "Vorabend" in der tragischen Gestalt des gefühlsstarken, liebesfähigen bulgarischen Freiheitskämpfers Insarow eine Gegenfigur zu Basarow geschaffen und zugleich die außenpolitische Lage Russlands, das gerade den Krimkrieg entfesselt und verloren hatte, in die Handlung einbezogen. Seine Schilderung klingt wie eine Berichterstattung der gegenwärtigen Lage im Kaukasus:

Die Ereignisse im Osten entwickelten sich rasch. Die Besetzung der Fürstentümer durch russische Truppen erregte alle Gemüter. Ein Gewitter zog sich zusammen, schon zeigten sich die ersten Vorboten eines unvermeidlichen Krieges. Ringsum züngelten die Flammen empor, und niemand vermochte zu sagen, wohin das Feuer sich ausbreiten und wo es haltmachen würde. Einst erlittene Unbill, alte Hoffnungen - alles lebte wieder auf. Insarows Herz klopfte heftig, denn auch seine Hoffnungen waren im Begriff, sich zu erfüllen.

Der Rebell Insarow verliert zwar den Kampfeinsatz gegen die türkische Besetzung seiner Heimat, gewinnt indes Liebe und Hingabe einer ihm an Mut mindestens ebenbürtigen Russin, die sich rückhaltlos der väterlichen Gewalt entzieht, um sich ihm anzuschließen.

Turgenjews Frauen, das zeigen auch seine zahlreichen Novellen, wissen um den Wert der Liebe als Ausnahmefall. Der "Neue Mensch" - das ist in seinem der russischen Wirklichkeit entnommenen Realismus in Wahrheit die tatkräftige Frau, die sich aus eigener Kraft dem patriarchalischen System zu entwinden weiß. Immerhin begannen die Frauen in Russland bereits 1860 an der Universität zu studieren - ein Jahr vor Abschaffung der Leibeigenschaft.

Der Autor selbst liebte über vier Jahrzehnte lang eine berühmte französische Theaterdiva, die Sängerin Pauline Viardot, Schwester der frühverstorbenen Maria Malibran und Ehefrau des viel älteren Theaterdirektors Viardot, mit dem sie Turgenjew die ganze Zeit über teilte, in einer friedfertigen Menage á trois. Sein 1849/50 in Paulines Pariser Haus verfasstes Bühnenstück "Ein Monat auf dem Lande", das später Tschechow als Modell seiner stimmungsstarken Menschheitskomödien diente, enthält in Gestalt des auf Distanz gehaltenen Hausfreunds Rakitin ein frühes Selbstporträt voll milder Ironie.

Mit den Novellenskizzen "Aufzeichnungen eines Jägers", die erstmals den versklavten Bauern ein Stimmrecht in der russischen Literatur verschafften, hatte der 34-Jährige 1852 schlagartig seinen Ruf als gesellschaftskritischer Autor erobert. Das Buch wurde in Russland so wirkmächtig wie "Onkel Toms Hütte" in Amerika. Novellen blieben Turgenjews Stärke, bis zuletzt.

Der alternde Turgenjew freilich kreiste um Rätsel der Mystik und Transzendenz - und um die verhängnisvollen Folgen, die eine falsch verstandene Kunst zeitigen können. Vier kennzeichnende Beispiele dafür sind, in ausgezeichneter Neuübersetzung von Dorothea Trottenberg, jüngst erschienen.

In zweien davon, der Briefnovelle "Faust" (eine Goethe-Hommage Turgenjews) und "Das Lied der triumphierenden Liebe", wird der Blick in die Abgründe einer ins Übersinnliche verlegten Liebe gelenkt. Die beiden andern, "Ein Briefwechsel" und "Klara Milic" (des Autors letzte epische Arbeit), enthüllen die Macht einer einseitigen, willkürlich abgebrochenen Liebe im Künstlermilieu. Im Fall der mit Selbstmord auf offener Bühne endenden Schauspielerin Klara Milic entführt diese Macht letztlich einen Unschuldigen ins Verhängnis.

Insgesamt wird einem Turgenjew-Leser das Verständnis dafür geschärft, was russische soziale Verhältnisse bis heute bestimmt. Aus der zeitlichen Distanz erkennt man verblüfft die Wiederkehr des Gleichen, nicht allein in den Mentalitätskonstanten, sondern in den Grundlagen menschlicher Beziehungen. Man genießt des Autors maliziöse Darstellung der säbelrasselnden Anfänge frauenemanzipatorischen Selbstbewusstseins in den Salons. Man begleitet die jungen Damen, lauter Heldinnen des nicht zu zügelnden Liebesdrangs, zu ihren Rendezvous mit den gleichaltrigen, ziemlich tölpelhaften Verehrern und bewundert ihr diplomatisches Geschick, sie trotz ihrer turmhohen Überlegenheit nicht gänzlich vor den Kopf zu stoßen.

Und man ist immer wieder erstaunt über die provozierende Unverfrorenheit der Jungen im Umgang mit den Alten - und über deren schonungslose Härte und Gnadenlosigkeit als sture Antwort darauf. Den Generationenkonflikt, vermehrt um die innenpolitische Sicht auf den Zwiespalt der russischen Gesellschaft - das bietet "Väter und Söhne", Turgenjews Meisterwerk, in eindringlicher Verdichtung.

BUCHTIPPS

Aufzeichnungen eines Jägers

Von Iwan S. Turgenjew. Marix Verlag, Wiesbaden 2008, 480 S., geb., € 10,30

Klara Milic

Zwei Novellen. Von Iwan S. Turgenjew

175 S., geb., € 18,30

Faust

Zwei Novellen. Von Iwan S. Turgenjew.

160 S., geb., € 18,30

Beide übers. v Dorothea Trottenberg. Dörlemann Verlag, Zürich 2008.

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