Die Politiker - © Foto: © Marcel Urlaub / Volkstheater

"Die Politiker": Der Sound der Gegenwart

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Raserei, Grübelei, Blödelei: Mit seiner Inszenierung im Wiener Volkstheater überfrachtet Kay Voges das szenische Sprech-Gedicht „Die Politiker“ von Wolfram Lotz mit Bildern.

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Raserei, Grübelei, Blödelei: Mit seiner Inszenierung im Wiener Volkstheater überfrachtet Kay Voges das szenische Sprech-Gedicht „Die Politiker“ von Wolfram Lotz mit Bildern.

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Der 1981 in Hamburg geborene Wolfram Lotz gehört ohne Zweifel zu den aufregenderen jüngeren Dichtern der Gegenwart. Hauptsächlich bekannt wurde der mit dem Kleist-Förderpreis (2011), dem Nestroypreis (2015) und zahlreichen anderen Auszeichnungen Geehrte vor allem als Dramatiker. Seine Texte sind dabei – von dem 2014 im Akademietheater uraufgeführten Stück „Die lächerliche Finsternis“ abgesehen – nicht im herkömmlicheren Sinne dramatische Literatur. Vielmehr sind die handlungsarmen und ohne konkrete Figuren auskommenden Sprechtexte meist hochpoetische Partituren, die Lotz auch schon mal als Hörstücke ausweist, wie etwa das 2019 in Wien gesehene „In Ewigkeit Ameisen“. Der eigenwillig statischen, eben undramatischen Form ungeachtet, sind diese Texte von Lotz selbst aber ausdrücklich für den Theaterraum gedacht. Wie er einmal sagte, unterhalten sich nicht Figuren miteinander, sondern „es unterhalten sich Sätze miteinander, und die Sprache dreht sich weiter.“

Seine lesenswerte Hamburger Poetik-Vorlesung von 2017 gewährt weiteren Einblick in dieses Theaterverständnis. Dort ist unter dem Stichwort „Sound“ nachzulesen, wie wichtig dem Autor die „Folge von Buchstaben und Wörtern“ ist, die „aufregend aussehen würden, ein Satz, der toll wäre, würde ihn jetzt jemand hineinsprechen in einen Raum mit Menschen“.

Schillerndes Textgeflecht

Der Sound der Sprache ist, was Lotz im Schreiben umtreibt, in ihm allein „drückt sich die Haltung aus“, denn „dem ist jetzt zu vertrauen / der weiß ja alles schon“. Diese dichterische Haltung ist als Reaktion auf eine als unverfügbar gedachte Wirklichkeit zu verstehen. Anders gesagt sind Lotz‘ Texte wesentlich auch als Reaktion auf die Schwierigkeit, das Theater als eines der Repräsentation zu begreifen – auf die Unmöglichkeit, Stücke von einer Idee, einem Thema, einer Meinung oder gar aus einer analysierten Wirklichkeit her zu entwickeln. Lotz glaubt nicht daran, mit dem Theater die Welt „wissen“ zu können, sie – jenseits seiner lyrischen Wahrnehmung – irgendwie noch abbilden zu können. So feiert er den Sound der Sprache und mit ihm eine gewisse Autonomie von der Welt (und sei es nur die der Theaterwelt) und lädt andere dazu ein, es ihm gleich zu tun. So fordert er die Regisseure ausdrücklich dazu auf, seine Texte bei der Umsetzung auf die Theaterbühne durch Streichungen, Umstellungen, Ergänzungen durch fremde Texte, etc. zu verändern.

Diese Einladung zur freien Gestaltung scheint nun für den Neo-Intendanten Kay Voges wie gemacht, der – wie jüngst schon zu sehen war – wenig Scheu davor hat, auch Stücke von Thomas Bernhard oder gar Samuel Beckett so ganz ohne Respekt als Vorlagen für die Verwirklichung seiner Theaterideen zu gebrauchen. Nun hat er im Volkstheater Lotz‘ 2019 in Berlin uraufgeführten Text-Block „Die Politiker“ als österreichische Erstaufführung mit aller ihm gebührenden Freiheit inszeniert.

„Die Politiker“ ist der formal bislang radikalste Text des Autors, handelt es sich dabei doch eigentlich um ein 99 Seiten umfassendes Lang-Gedicht, in dem ein lyrisches Ich in einer hochmusikalischen, stringent rhythmischen, zum Teil (absurd) gereimten Sprache assoziativ Beobachtungen, Gedanken, Handlungen, Gefühle und Vermutungen zu dem aneinanderreiht, was ihm zu Politikern einfällt. Wer dabei aber Konkretes oder auch nur Sinnhaftes über Politik oder Politiker erwartet, wird enttäuscht.
Vielmehr wird in diesem zwischen Raserei, Grübelei und Blödelei schillernden Textgeflecht ein fragiles Ich erkennbar, dessen Affekte überraschenderweise nicht bloß als Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen zu erkennen sind, sondern durch ihr besonderes lyrisches Geformtsein Anteil am Allgemeinen zu gewinnen vermögen. Mit Adorno gesagt, erhebt nämlich die besondere Form den Text ins Allgemeine, gerade weil „es Unentstelltes, Unerfasstes, noch nicht Subsumiertes in die Erscheinung setzt und so geistig etwas vorwegnimmt von einem Zustand.“

Atemberaubende Intensität

Voges nun teilt den Text auf dreizehn in Varianten von antiken weißen Tuniken und Togen gewandete Darstellende auf, die den schwierigen Text mit großartiger Präzision und atemberaubender Intensität variantenreich rezitieren. Akustisch erweitert wird der Wortstrom zudem durch Livemusik. Wie die Kostüme von Mona Ulrich zitiert auch die Bühne von Michael Sieberock-Serafimowitsch die Anfänge demokratischer Gesellschaften: Mittig im Hintergrund ist die Silhouette einer antiken Tempelanlage zu erkennen. Im Vordergrund links steht Michelangelos berühmte David-Skulptur mit einem Bildschirm unter dem Arm, rechts die der griechische Siegesgöttin Nike von Samothrake, deren Kopf ebenfalls durch einen Flachbildschirm ersetzt wird. Darauf sind unaufhörlich projizierte Live-Bilder (teils von einem Kameraroboter aus dem Zuschauerraum) zu sehen, die den „Brückenschlag durch die Zeitalter“ erlauben sollen, wie es im Programm heißt. In sechs auf der Drehbühne unaufhörlich vorbeikreisenden Kammern sind zudem unterschiedliche Handlungssplitter zu sehen, die dem akustischen Klangteppich Visuelles bei- und entgegensetzen.

Voges Inszenierung ist eine zugegeben technisch hochstehende Veranstaltung, die allerdings in ihrer perfekten Gemachtheit nicht so recht zur Fragilität des poetischen Ichs von Lotz` Text passen mag. Zwar vertragen sich die multiplen Perspektiven, die Voges mit seinen Bildern anbietet, mit dem losen Zusammenhang des assoziativen Wortstroms. Aber letztlich hat die Freiheit wohl Grenzen, wenn die Regie missachtet, was der Autor in seiner Poetik-Vorlesung so sagt: „Das Wesentliche ist für die Ohren unsichtbar“, indem sie eher nach folgendem Motto verfährt: Das Wesentliche ist für die Augen unhörbar!

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