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170 Geistliche vorzeitig entlassen!

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Am 15. Februar 1945 um 13.30 Uhr erhielt plötzlich der von Kardinal Faulhaber bestätigte Lagerkaplan, der heutige Pfarrer von N e n-z i n g in Vorarlberg, geistlicher Rat Georg S c h e 11 i n g, vom politischen Lagerbeauftragten, dem Gestapobeamten Kick, den Befehl, bis 17.30 Uhr eine vollständige Liste aller deutschen geistlichen Häftlinge, geordnet nach Rängen, fertigzustellen. Zufällig hatte ein badischer Häftling ein Geheimregister der Ränge unter Lebensgefahr angelegt, nachdem vorher die Anlage derartiger Register den Gefangenen streng verboten worden war. Daher konnten bis 18 Uhr alle verfügbaren Schreibmaschinen rasseln. Punkt 18 Uhr übernahm ein Kurier des PSHA die Liste und fuhr damit ab. Die Geistlichen, höchst aufgeregt über dieses'im bisherigen eintönigen Lagerleben einmalige Ereignis, befürchteten eine neue Aktion der Gestapo, aber Kick beruhigte sie. Heute wissen wir, daß man es mit einem vorbereitenden Schritt zur späteren Vatikanaktion Himmlers zu tun hatte. Bald darauf begannen auf der SS-Kommandantur ähnlich geheimnisvolle, äußerst genaue Arbeiten zur Erfassung aller Dänen und Norweger. Ungefähr am 14. März trafen im Lager 56 Autocars des. Internationalen Roten Kreuzes ein, um alle Nordländer zu übernehmen. Nordische Typhuskranke waren vorher rasch aufgepäppelt worden. Noch ahnte niemand im Lager, daß auf Grund der Gespräche des SS-Brigadeführers Walter Schellenberg vom Amt VI in Stockholm mit Graf Folke Bernadotte die Befreiungsaktion Himmlers für Häftlinge aus den besetzten Staaten Dänemark und Norwegen angelaufen war. Am 23. März wurden -

im Rahmen der Aktion Bernadottes — die ersten Geistlichen freigelassen. Es handelte sich um die dänischen bzw. norwegischen Geistlichen Madsen, Länkholm, Riis, Möller, Roberstad und Jensen.

Da bekam am Freitag, dem 23. März, also am gleichen Tag, Kick über die Münchner Gestapo den RSHA-Auftrag, sich für die Entlassung deutscher Geistlicher und Ordensangehöriger ab 27. März bereitzuhalten. Es ist bis jetzt ungeklärt, ob Kunze diese Anordnung von Hof aus erteilte oder ob er schon in München weilte und dort das Wochenende verbrachte, um sich am 26. März mit Dr. Müller zu treffen. Jedenfalls wurden am Dienstag in der Karwoche, am 27. März, schlagartig acht Geistliche zur Entlassung aufgerufen, darunter der heutige bürgen! ändische Pfarrer Johann Schmalzl, der heutige Pfarrer Alois Knecht aus Hohenweiler/Vorarlberg sowie der frühere Stella-Jesuit Pater P i e s. Am folgenden Tag, also an jenem Mittwoch, an dem Dr. Müller vormittags 9 Uhr seinen Bericht übergab, steigerte sich die Entlassungsaktion auf 22 und am Gründonnerstag auf 16 Mann. Am Mittwoch war wieder eine Reihe von Oesterreichern dabei, u. a. losef Stangl (Diözese St. Pölten), Alois Starker (Niklasdorf), Franz Scheid er aus Niederösterreich, Josef Steinkelderer (Innsbruck). Von Karfreitag bis Ostermontag trat ein Entlassungsstopp ein. Im Lager kursierten wildeste Gerüchte und Vermutungen. In Wirklichkeit handelte es sich bei den 46 Mann um die Liste I, zusammengestellt aus Personen, welche schon wiederholt für eine Entlassung vorgesehen, aber immer wieder zurückgestellt worden waren. Der Beginn mit dieser Liste Nr. I am Dienstag, dem 27. März, hatte offenbar das für die Kontaktnahme nötige Klima zu schaffen.

Am Dienstag nach Ostern wurde die Lagerspannung neuerlich aufs höchste gesteigert, denn die Entlassungen fingen wieder an, diesmal in alphabetischer Reihenfolge, ohne jedoch alle Namen zu umfassen. Sie dauerten b i s 11. April, betrafen weitere 124 Geistliche und umfaßten die Liste-Ii, darunter den Lagerdekan Schel'ling und den Sonderhäftling Dr. Hock. Hingegen gingen die übrigen Geistlichen deutscher Staatsangehörigkeit, also Leute der Listen III und IV, anscheinend die „Verhandlungseinlage“ Himmlers, nicht frei. Jedenfalls aber waren von den 318 Deutschen, Oesterreichern und Sudetendeutschen 17 0 freigegangen. (Die Namen aller im März/April 1945 Freigelassenen sind in einem soeben im Eigenverlag von Pater Lenz, Wien XX, Brigittenauer Lände 166, erschienenen Buche „Christus in Dacha u“, enthalten.)

Der bekannte belgische Jesuit Dr. De C o n-n i n c k schilderte nach dem Kriege einmal in „Catholic Digest“ die damalige mächtige Aufregung in Dachau, zumal es sich um eine der größten Entlassungsaktionen aus deutschen KZs während des Krieges überhaupt handelte. Der Jesuitenpater stellte die Frage nach den rätselhaften Hintergründen der Aktion zwischen dem 27. März und dem 11. April 1945. Hier ist erstmals die Aufklärung!

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