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Der Schweiger

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In jener längstvergangenen Zeit, in der es noch das jüdische „Städtl“ in den osteuropäischen Ländern gegeben hat, lebte in einem solchen ein Mann, der niemals sprach, obwohl er physisch durchaus dazu imstande war. Ein Fremder, dem der Mann aufgefallen war, erkundigte sich, was denn mit jenem los sei. Man erzählte es ihm: Der „Schweiger“ hatte einmal im Zorn einem anderen Mann den Tod gewünscht,

und dieser war noch in der Nacht darauf gestorben. Daraufhin ordnete der Rabbi des Städtls an: „Einer, dem so furchtbare Macht durch bloße Rede gegeben ist, darf sich ihrer niemals wieder bedienen. Er hat von nunan zu schweigen.“ Ein solches Gebot wäre nicht unangebracht für Leute wie Baldur von Schirach, der unlängst in, einer deutschen Fernsehsendung erklären durfte, daß er heute das Gleiche tun würde, was er „damals" getan hat. Das war, auf den kürzesten Nenner gebracht: mehrere Millionen junger Menschen in den Tod geschickt zu haben, damit sich Deutschland mit den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion an räumlicher Ausdehnung messen könne. Nicht zu sprechen von jener berühmten Rede in Wien als Gauleiter, in der er sich stolz dazu bekannte, hunderttausend österreichische Juden zur Austilgung in den Osten deportiert zu haben, „weil damit die europäische Kultur gerettet wurde“.

Den Regisseur Karl Frucht- m a n n muß man sich merken. Nach dem unlängst gezeigten „Kaddisch“ war nunmehr das ebenfalls von ihm inszenierte Fernsehspiel „Der Spaßmacher“ des sowjetischen Autors Viktor Rosow zu sehen. Es handelt vom ewig russischen Thema vergangener Schuld. Hier ist es eine, die dadurch entstand, daß einem Mann ein Mädchen durch eine angedrohte Anzeige bei der Staatspolizei weggenommen wurde. Nicht undifferenziert wird gezeigt, wie solche Schuld nicht nur den Opfern, sondern auch den Urhebern nicht gut anschlägt.

Reichlich deprimierend war für mich eine Diskussion junger Leute, die gern den „neuen F i l m“ in Österreich machen möchten. Sie gaben allen möglichen Umständen die Schuld daran, daß sie es nicht zuwege bringen, nur nicht dem bei ihnen liegenden und in der Diskussion zutage getretenen Grund: daß sie nicht zu sagen vermögen, was sie sich darunter vorstellen, welche Aussage sie anstreben. Ehe man von einem „neuen“ Film und neuen Formen und neuer Ästhetik zu sprechen beginnt, müßte man sich über die Unzahl von Themen aus der jüngeren Geschichte und Gegenwart Österreichs Rechnung geben, die schon so lange auf Gestaltung durch den Film warten. Wahrscheinlich liegt hier — in dieser Unfähigkeit, in diesem Unwillen, sich mit allem was war und was ist, auseinanderzusetzen — der eigentliche Grund dafür, daß es nach 1945 außer verpfuschten Anläufen nicht zu einem österreichischen Film gekommen ist.

Ein am Vortag im Fernsehen gezeigter polnischer Streifen „Samson“ von Andrzej Wajda über das Schicksal eines jüdischen „U-Boots“ im von den Deutschen besetzten Warschau während des Kriegs hätte, wenn auch mit gewissen anderen aber grundsätzlich nicht sehr verschiedenen Zügen ebenso gut in Österreich gemacht werden können. Man kann annehmen, daß uns ein solcher Film mehr Ehre und Geld einbrächte, als Herrn Antels Hervorbringungen für die Verehrer der Wirtin an der Lahn. Nicht zu reden von der seelischen Gesundung des österreichischen Volkes, um die es — wie die Ziffern der Selbstmorde und des Alkoholverbrauchs zeigen — nicht gut bestellt ist.

Die Rede des Friedenspreisträgers der Frankfurter Buchmesse, Alexander Mitscherlich ist leider außer Programm übertragen worden, so daß viele sie sicher nicht gehört haben. Sie enthält mehr kluge Gedanken und Einsicht, als von irgendjemand in den letzten Jahren geäußert worden ist. Diese Rede verdient, ja verlangt eine gedruckte Wiedergabe. Und dies bringt mich darauf, wie man der seit langem im Schatten dahinwelkenden Zeitschrift des österreichischen Rundfunks, „Radio Österreich“ zu neuem Leben verhelfen könnte. (Charakteristischerweise wird sie im ORF-Al- manach für 1969 nirgends genannt. Anscheinend besteht die Absicht, sie still eingehen zu lassen.) Da erscheint nun schon seit langem in England (neben den „Radio Times“, die lediglich die Programme und Sendezeiten enthält) eine sehr populäre Zeitschrift „The Listener“. In ihr werden die Texte der interessantesten Vorträge und Diskussionen — meist der vergangenen Sendewoche vollinhaltlich abgedruckt. Nahezu alle unserer Tages- und auch manche Wochenzeitungen bringen am Samstag komplette Hörfunk- und Fernsehprogramme der kommenden Woche. Damit ist die Verwendung von „Radio Österreich“ für diesen Zweck unnötig geworden. Wenn sie derselben Aufgabe wie der „Listener“ zugeführt würde, erhielten wir dadurch — bei einigermaßen zulänglicher Führung — eine interessante neue Wochenschrift, die sicherlich mit mehr Lesern rechnen könnte als derzeit.

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