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Ein neues Lied wir heben an...

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Der Neonazismus ist keine rekonstruierte NSDAP. Diese ist, da Produkt einmaliger geschichtlicher Bedingungen, tot. Sie war es schon, bevor Hitler Hand an sich legte. Einfach als Folge der von ihren Anhängern erkannten und zum Kriegsende durch die Ereignisse erwiesenen Unzulänglichkeit des Programmes und der Unmöglichkeit, die dem Nationalsozialismus aufgegebenen nationalen Probleme auch nur im Ansatz lösen zu können.

Das, was man heute als Neonazismus bezeichnet, ist nichts Einheitliches, wohl aber ein da und dort deutlich merkbarer Versuch ehemaliger Nationalsozialisten (neue Nationalsozialisten gibt es in Masse offensichtlich kaum, es sei denn in einzelnen Standorten als Folge einer überdosierten „Entnazifizierung“), ihre Ressentiments durch „restaurative“ Betätigung zu überwinden. Daneben ist aber der Neonazismus der prägnanteste Ausdruck des in Deutschland stets vorhandenen freischwebenden, da nicht auf die politischen Realitäten Bedacht nehmenden deutschen Chauvinismus.

Das sei zur Kennzeichnung des schillernd politischen Phänomens „Neonazismus“ gesagt.

Da sich in der letzten Zeit fast sämtliche rechtsradikalen Verbände in der Bundesrepublik unter Hintanstellung der persönlichen Differenzen ihrer Führer zusammengeschlossen haben, scheint es an der Zeit, daß wir uns auch in Oesterreich an Hand einiger Materialien über das Problem des bundesdeutschen Neonazismus informieren, ohne deswegen schon in eine „Naziriecherei“ zu verfallen.

Wenn der Neonazismus auch nicht gewillt ist, eine gradlinige Fortsetzung der NS-Institutionen zu sein, dann unter anderem deswegen, weil man trotz aller Glorifizierungsversuche im „Reich“ in Hitler doch den Mann sieht, der das gute Geschäft durch die Art seiner Kriegs- und Staatsführung verdorben hat.

Das soll aber nicht heißen, daß die Gruppen und Grüppchen des Neonazismus keine Gefahr sind. Sind ihm doch, wie allen Radikalismen, die großen Gesten und jenes Pathos verfügbar, welche bestimmte Menschen und Massen ansprechen.

Wie ist ßqn, j5Oweitv m Jift,Pjpge;a ehen kann? der Neonazismus derzeit in der Bundesrepublik zusammengesetzt?

Vor allem sind es die Angehörigen des ehemaligen Parteiapparates, heute durchweg keine Jünglinge mehr, aber vielfach noch so weit

„feurig“, daß sie — als Landsknechtsnaturen — gerne bereit sind, „aufzustehen“ und ein „ewiges Gesetz" zu erfüllen, um wieder zu Posten zu kommen, bei denen man ohne viel Eigenschweiß Ehren, und, was nicht weniger wichtig ist, respektables steuerfreies Einkommen erlangen kann. Mit den NS-Apparatschiks strebt auch die alte „Parteiintelligenz" nach oben. So tauchen sie nun wieder auf: Der stellvertretende Reichspressechef Helmut Sündermann, heute Leiter des Druffelverlages, der wieder systematisch NS-Schrifttum verlegt, etwa die Memoiren Ribbentrops, Werke der Frau Heß und des ehemaligen Oberbürgermeisters von Berlin, Julius Lippert. So findet man die NS-Autoren wieder auf dem Büchermarkt, einige sogar vom bayrischen „staatlichen Prüfungsausschuß für Schülerbüchereien usw.“ empfohlen, wie H. F. B 1 u n c k (erster Präsident der NS-Reichsschrifttumskammer) und den HJ- Dichter H. Baumann. Allein 1955 gab es in der Bundesrepublik nach einer Ermittlung 700 Titel mit faschistischem Inhalt, die in einer Auflage von drei Millionen Exemplaren herausgebracht wurden. Beim Bundesamt für Verfassungsschutz sind derzeit fünfzehn periodisch erscheinende Druckwerke registriert, die einen NS-Inhalt haben und organisationsgebunden sind, während zwölf als „unabhängig" bezeichnet werden.

Dann erinnern wir uns noch gut des Schlüter- Verlages (dessen jetzt „parteilose “ Inhaber gleichen Namens kurze Zeit Kultusminister eines deutschen Bundesstaates in der Nachkriegszeit war).

Auch die alten NS-Männer des Auswärtigen Dienstes haben wieder in ihrer „Branche“ Unterkommen gefunden und sitzen zum Teil in Südamerika, wo sie interessante Kontakte mit der dortigen Emigrantengruppe pflegen, etwa mit Oberst Rudel. Stärkste Bedeutung für den Neonazismus haben die Leute von der ehemaligen Waffen-SS, deren Angehörige pauschal insoweit bereits rehabilitiert wurden, als sie bis zum Dienstgrad eines Oberstleutnants in der Bundeswehr Aufnahme finden können.

Die Waffen-SS hat eine „H i I f s g e m e i n- schaft auf Gegenseitigkeit“ (H i a G.) mit 400 Kreisgemeinschaften und 400.000 Mitgliedern (!), die auf Versammlungen schon ihre Forderungen anzumelden beginnen. So vor kurzem in Minden, wo 10.000 ehemalige SS-Männer beisammen waren, vor denen unter anderem der FDP-Abgeordnete Mende sprach. Die SS-Veteranen sind nicht mehr gewillt, wie einer ihrer Sprecher sagte, die „einzigen Kriegs- Verlierer in Deutschland“ zu sein, während sie nach ihrer Meinung die „vierte Säule der Wehr- jnacht“ waren. Nicht nur, daß man sich in den HiaG.-Versammlungen mit Dingen beschäftigt, die mit der „Fürsorge“ kaum etwas zu tun haben, hat einer ihrer Prominenten, Erich K e r n- m a y r, Redakteur der „Deutschen Soldatenzeitung“ und Bundespressereferent der HiaG. — auch in Oesterreich ke'in Unbekannter —, in Landshut für die Führung der HiaG. unangenehme Dinge gesagt, so etwa, daß alle Geheimnisse, die es im Bundesverteidigungsministerium gibt, unverzüglich der HiaG. bekanntgemacht werden. Diese Mitteilung wurde durch die Drohung ergänzt, daß die 400.000 Männer der HiaG. zu „Meuterern gegen die Bundesrepublik“ werden könnten. Dieser Hinweis, an den sich Kernmayr jetzt plötzlich nicht mehr erinnern kann, ist augenblicklich Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens des Oberstaatsanwaltes.

Da gerade jene, die laut vom „Reich aller Deutschen“ und, wie die schönen Dinge lauten, sprechen, untereinander auf Dauer selten einig sind, hat sich, wie alle nationalen Bünde, auch die HiaG. gespalten. Eine Gruppe unter den SS-Generalen Steiner und Gille und die Zeitschrift „W i k i n g - R u f“ hatte Differenzen mit der Führung, was sich nun in der Abhaltung eigener Zusammenkünfte zeigt.

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