6616481-1955_34_09.jpg
Digital In Arbeit

Eintopf mit Sekt

Werbung
Werbung
Werbung

„Wir hoffen, Sie haben einen guten Flug hinter sich ...“ Diese Worte standen in blauen Buchstaben auf jenem weißen Karton, den man den österreichischen Journalisten, die zur Feier der Fertigstellung des einmillionsten Volkswagens nach Wolfsburg, Niedersachsen, gekommen waren, nebst Platzkarten zum Mittagessen und Eintrittskarten zur Festveranstaltung in die Hand drückte. Darob einige Verwunderung. Die Oesterreicher hatten nämlich, im Gegensatz zu den anderen ausländischen Kollegen, gar keinen Flug hinter sich, sondern sie waren 20 Stunden mit Bahn und Autobus herangereist; sie waren auch nicht zum Presseempfang für die 600 ausländischen Journalisten eingeteilt, sondern seltsamerweise erst zur inländischen Pressekonferenz geladen worden. Ueberdies hatte man das Arrangement so getroffen, daß sie auch zu dieser zu spät kommen mußten.

Dabei hatte alles so nett begonnen. Im Speisewagen, den die Reiseleitung bereitgestellt hatte, wurde folgendes mit Phantasie zusammengestellte und mit Gusto bereitete Abendessen serviert:

Million'nen-Suppe (mit Apostroph),

Gespickte Kalbsnuß nach VW-Art,

Curry-Reis,

Pilze in Rahmsoße,

Mimosensalat,

Jubiläumskrapfen,

Obst.

Die Reisebegleitung war zuvorkommend, der Schlafwagenschaffner so, wie man sich Schlafwagenschaffner nur wünschen kann — man erwartete sich also einiges von der Fahrt nach Wolfsburg. Die Enttäuschung über diesen merkwürdigen Empfang war dann um so bitterer.

Die Mittagstafel im „Saal der technischen Entwicklung“ war, als die Oesterreicher eintrafen, bis auf den letzten Sessel besetzt. Plätze waren für sie keine reserviert. Einige aßen stehend, einige eine Stunde später an abgeräumten Tischen, einige gar nicht. Es gab Eintopf mit Sekt.

Die Festveranstaltung hatte ein schönes Programm: Musikalische und tänzerische Dar-, bietungen berühmter Ensembles aus vielen europäischen Ländern, aus Südafrika, Südamerika, den Vereinigten Staaten und aus — Oesterreich (die Deutschmeister und das Staatsopernballett). Die Oesterreicher konnten das Programm nicht sehen. Das Stadion (eigens für diesen Tag aufgebaut) war mit 160.000 Zuschauern überbesetzt (Werksangehörige und ihre Familienmitglieder und Freunde). Es knackte im Gebälk. Plätze waren für die österreichischen Journalisten keine reserviert.

Zwei ad hoc anberaumte Aussprachen mit Generaldirektor Nordhoff entfielen, weil er nicht erschien. Den berühmten einmillionsten Volkswagen (der in ein Museum wandern soll) bekamen die Oesterreicher ebenfalls nicht zu Gesicht.

Wer also als Oesterreicher in Wolfsburg etwas sehen wollte, mußte sich selbständig machen und auf eigene Initiative auf Entdeckungen gehen.

Wolfsburg ist eine interessante Stadt. Die Einwohnerzahl hat sich in den letzten vier Jahren verdoppelt und beträgt heute an die 50.000. Noch vor dem Krieg war es ein nahezu unbekanntes kleines „Städtchen“ mit Burg. Heute ist es eine moderne Mietskasernenstadt (Straßennamen nach Autokonstrukteuren): eine einzige überdimensionierte Vorstadtsiedlung mit langen, gleichförmigen Häuserzeilen, dazwischen viele unbebaute Flächen. Allein das Volkswagenwerk hat seit Kriegsende 5300 Wohnungen für seine Werksangehörigen neu gebaut. — Die winzige Altstadt (Straßennamen: „An der Vorburg“ usw.) ist so klein, daß man sie erst nach langem Suchen findet. Vom städtebaulichen und architektonischen Blickpunkt hätte man sich von Wolfsburg, da es ja eine bewußt geplante Siedler- und keine wilde „Goldgräber“-stadt ist, mehr erwartet. Die Gegend rings ist Niedersachsen: Flachland, Weizenfelder, Bauerndörfer, die Ts der großen Ueberlandleitungen, kleine Waldstreifen zuweilen, mittelmäßige Straßen, alte Windmühlen, Hafer und Rübenäcker.

Das Volkswagenwerk mit seinen zahlreichen zusammenhängenden Montagehallen, die alle untereinander verbunden sind, ist über 500.000 Quadratmeter an Arbeitsfläche groß. Man kann einige Stunden darin umhergehen und den einzelnen „Fließbändern“ folgen, ohne an dieselbe Stelle zurückzukommen. Direkt neben dem Werk — noch innerhalb des Werksgeländes — liegen Weizenfelder und Wiesen. Straßen, Eisenbahn und Mittellandkanal verbinden Werk und Welt. Im Volkswagenwerk sind heute 30.000 (übrigens bestbezahlte) Arbeiter beschäftigt. Täglich werden 1280 Volkswagen und einige hundert VW-Kombiwagen erzeugt.

Mit dem Aufbau des Volkswagenwerks wurde 1938 begonnen. Die ersten Volkswagen kamen erst 1940 heraus und dienten militärischen Zwecken. Nach dem Krieg wurde das Werk von den Engländern übernommen. Etwa 10.000 Wagen jährlich betrug die Produktion in den ersten Nachkriegsjahren. Genau soviel Wagen werden heute allein nach Oesterreich exportiert. (Insgesamt beträgt der Export über 50 Prozent.) Im Jänner 1948 übergaben die Engländer das Werk Generaldirektor Nordhoff, der früher bei Opel tätig war, und ließen ihm freie Hand. Die Eigentumsverhältnisse des Werkes sind heute noch ungeklärt; es wird vom Land Niedersachsen als Treuhänder verwaltet.

Eintopf mit Sekt: Daran mußte man wieder denken, wenn man Bilder des millionsten Volkswagens, mit Gold ausgelegt, mit Damast gepolstert, Leisten und Stoßstangen mit Halbedelsteinen besetzt, sah. Der Volkswagen — das ist der Eintopf des kleinen Mannes, die in Europa heute weitaus am häufigsten verbreitete Auto-type, ein Auto mit Mittelklasse-Motor und der Karosserie eines Kleinwagens. Aber das VW-Werk liebt, in der Art der „Neureichen“, pompöses Auftreten und dementsprechende Reklame. Da der Volkswagen an sich nicht besonders formschön ist, versucht man immer wieder, ihn durch verschiedene optische Verbesserungen herauszuputzen — Eintopf mit Sekt.

Generaldirektor Nordhoff — der gerne große wirtschaftspolitische Reden hält — gilt heute nicht nur als routinierter Wagenbauer, sondern auch als Autofachmann von Rang. Er selbst fährt einen Alfa-Romeo 1900 Super Sport.

Damit wir es nicht vergessen: der Konstrukteur des Volkswagens hieß Porsche. Seiner wurde kaum gedacht. Er war Oesterreicher.

PS.: Nach Redaktionsschluß erreicht uns ein Entschuldigungsschreiben des Pressechefs des Volks, wagenwerkes, der bei der Festveranstaltung als Conferencier auftrat. Von der Deutschen Lufthansa sei ein Sonderflugzeug gechartert worden, heißt es in dem Brief, aber dann „versagte die österreichische Regierung unfreundlicherweise der Deutschen Lufthansa für diesen Sonderflug die Landungsgenehmigung“. Inzwischen haben das Bundeskanzleramt und das Amt für Zivilluftfahrt dies energisch dementiert. Auch der Einfall, das Nichterscheinen Nordhoffs mit dem Applaus der Werksangehörigen für das Staatsopernballett zu motivieren, erscheint uns ein wenig seltsam. Immerhin: wir sind nicht böse und tragen nichts nach. Allein der Gedanke, daß man etwa die Reise statt im Schlaf- in Volkswagen hätte zurücklegen müssen, stimmt versöhnlich.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung